Preußische Amtmannbürokratie und lokale Selbstverwaltung

Der Sonderforschungsbereich 1150 „Kulturen des Entscheidens“ (Laufzeit 2015-2019)  untersuchte die soziale Praxis des Entscheidens in historisch vergleichender und interdisziplinärer Perspektive vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Am SFB 1150 sind die Fächer Geschichte, Literaturwissenschaft, Rechtswissenschaft, Philosophie, Ethnologie, Judaistik und Byzantinistik beteiligt. Er umfasste drei Projektbereiche mit insgesamt 20 Teilprojekten sowie ein Integriertes Graduiertenkolleg.

Das Teilprojekt untersuchte Praktiken des Entscheidens in westfälischen Dörfern um 1900. Im Mittelpunkt stand die Lokalverwaltung. Der preußische Amtmann hatte einerseits die Spielräume staatlicher Vorgaben auszuloten, anderseits dörfliche Interessen und Partizipationsansprüche zu berücksichtigen. Somit wurden bürokratische Verfahren, die informelle Aushandlung mit dem Dorf und die parlamentarische Konsensbildung im Hinblick auf die Modi des Entscheidens untersucht. Das Projekt C05 war ein Teilprojekt des SFB 1150 "Kulturen des Entscheidens" und wurde von Dr. Constanze Sieger und der Teilprojektleitung Prof. Dr. Werner Freitag bearbeitet und 2019 erfolgreich abgeschlossen. Entscheiden konnte als kommunikativer Prozess in der Entscheidungsgesellschaft Dorf herausgearbeitet werden – ein Zugriff, der ältere Überlegungen zur Genese der kommunalen Selbstverwaltung von Landgemeinden neu konturiert. Die Analyse der Prozesse des alltäglichen Entscheidens hat zudem aufgezeigt, dass vormodern anmutende Konsensorientierung das Handeln in der Gemeindeverordnetenversammlung bis weit in das Kaiserreich prägte und dass eine Konfliktvermeidung durch Nichtentscheid seitens der übergeordneten Behörden dem Amtmann „Ermessensspielraum“ eröffnete.

Plakat Workshop Kulturen Des Entscheidens In Politischen Uebergangssituationen 2016
© SFB 1150

Kulturen des Entscheidens in politischen Übergangssituationen

Am 11.11.2016 findet ein Workshop der Teilprojekte B06, B07, C05 und C07 des SFB 1150 zum Thema "Kulturen des Entscheidens in politischen Übergangssituationen" statt.

Veranstaltungsort: Nördliches Kavaliershäuschen, Seminarraum im EG, Schlossplatz 6, 48149 Münster.
Beginn: 9.30 Uhr

Politische Übergangssituationen gehen häufig einher mit einer Neugestaltung der Spielregeln für politisches Entscheiden. Verfahren und Prozesse zur Entscheidungsfindung werden neu strukturiert, die Entscheidungen selbst einer anderen Legitimation unterworfen. Die Möglichkeiten, „Gestaltungsentscheidungen“ (Schimank) zu treffen, die das neue politische System und das entscheidungsförmige Handeln beeinflussen, stellen die Akteure vor große Herausforderungen.

Gleichzeitig gibt es die Beharrungskräfte von „alten“ Traditionen, Regeln und Verfahren, die teilweise vom neuen politischen System bewusst übernommen werden oder aber zu einem informellen Nebeneinander von unterschiedlichen Entscheidenskanälen führen können.
Vor diesem Hintergrund will der geplante Workshop folgenden Fragen nachgehen: Welche Regeln des politischen Entscheidens gaben sich die Akteure in der neuen Situation, wie wurde das Entscheiden gerahmt, welche neuen Verfahren und Prozesse wurden angewandt? Welche alten Formen der Entscheidungsfindung wurden übernommen, wie wurden diese in das neue politische System integriert? Welche Rolle spielte das informelle Entscheiden, in wie weit wurden die neuen formalen Vorgaben tatsächlich befolgt? Wie wurde die neue Kultur des Entscheidens legitimiert, wie grenzte man sich von den alten Praktiken ab?

Der Vergleich von unterschiedlichen politischen Übergangssituationen in der Moderne soll es ermöglichen, zu einer differenzierten Analyse von Prozessen und Verfahren des Entscheidens zu gelangen, um die Herausbildung von unterschiedlichen Kulturen des Entscheidens genauer zu beleuchten. (Stephan Ruderer)

... zum Programm

Publikationen

  • Werner Freitag, Entscheidungsgesellschaften? Dörfer und Kleinstädte in Westfalen um 1900. Ein Bericht aus dem Teilprojekt C 05 des SF 1150 "Kulturen des Entscheidens" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Laufzeit 1. Juli 2015 - 30. Juni 2019), in: Westfälische Forschungen, Bd. 68 (2018), S. 405-417.
  • Werner Freitag, Amtmann und Dorfgesellschaft in Westfalen um 1900, in: Westfälische Zeitschrift 169 (2019), S. 75-96.
  • Constanze Sieger/Felix Gräfenberg, Information als Ressource des Entscheidens in der Moderne (1780-1930). Entwicklungen und Konstellationen in preußischen Zentralbehörden und westfälischen Lokalverwaltungen in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen (Kulturen des Entscheidens, 1), hrsg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2018, S. 333-355.
  • Constanze Sieger, „Das gibt nie eine Verschmelzung“ oder die „gegebene Lösung“? Legitimationsnarrative in den Eingemeindungsentscheidungen der Weimarer Republik, in: Philip Hoffmann-Rehnitz u.a. (Hg.): Semantiken und Narrative des Entscheidens (Kulturen des Entscheidens), Göttingen 2021 (im Druck).

Kooperationspartner

SFB 1150 "Kulturen des Entscheidens"

Das Projekt C05 ist eingebunden in den Sonderforschungsbereich (SFB 1150) "Kulturen des Entscheidens" und wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.