Louis Moritz (1813): Kozakkennachtleger
„Russen“ und Kosaken in Münster: Russländische Spuren von 1813/14
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von Emily Boheme
 
Bereits am 7. November traf die Vorhut der Aliierten in Münster ein und am 18. November erfolgte die Wiederinbesitznahme der Stadt und der französisch verwalteten Gebiete für Preußen.
Jakobi 2023, S. 295.
Schon am 7. November waren erste Kosakenverbände als Vorhut der aliierten Nordarmee in Münster eingerückt.
Lahrkamp 1996, S. 41.

Wer sich in die Geschichte Münsters um 1813 einlesen will, wird vermutlich auf diese Zitate stoßen. Offenbar hatten die kosakischen und regulär dienenden Soldaten des Zaren wenig Eindruck hinterlassen. Es macht den Anschein, als seien sie gar nicht lange in Münster gewesen. Waren es auch gar nicht viele Soldaten? Ein Blick in die Quellen verrät: Dieser Eindruck täuscht.

Am 7. November 1813 traf eine kosakische Vorhut in Münster ein und lagerte auf dem Schlossplatz. Sie markierten den Anfang einer etwa vier Monate andauernden Belastung für die Münsteraner: Im Folgenden zogen viele russländische und preußische Truppen nach Münster. Das bedeutete auch, dass allein mindestens 15000 russländische Soldaten in dieser Zeit in Münster Halt gemacht hatten und mit der Bevölkerung in Kontakt getreten waren. Doch wie sah dieser Kontakt aus?

Das Eintreffen der kosakischen Vorhut versinnbildlichte das Ende der seit 1806 andauernden französischen Vorherrschaft. Die Münsteraner Bevölkerung hatte bereits einige Jahre lang Soldaten beherbergen müssen – in diesem Fall französische. Diese hatten sich durch „Bescheidenheit und Artigkeit“ (Hüffer, S. 29) ausgezeichnet. Die französischen Soldaten bezogen Quartier in Privathaushalten oder in ehemaligen Klöstern, die im Zuge der Säkularisierung geschlossen worden waren. Anders die Kosaken: Sie schlugen ein Lager, wie abgebildet (s. o. Louis Moritz, 1813: Kozakkennachtleger (Titelbild); zu sehen ist ein Kosakenlager, wie es auch in Münster aufgeschlagen wurde), auf dem Neuen Platz auf, dem heutigen Schlossplatz.

Fotografie des Schlossplatzes auf einer Ansichtskarte von ca. 1870.
Der Schlossplatz um 1870. So ungefähr hatte der Schlossplatz vermutlich auch 1813 ausgesehen. Die Kosaken hatten Bäume aus der abgebildeten Allee verwendet, um ein Feuer zu machen. (Quelle: Stadtarchiv Münster, Nichtamtliches Archivgut, Sammlung Henning Stoffers, Nr. 729)
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Da man in Münster vertrauter mit der französischen als mit der russländischen Kultur war, erschienen die kosakischen Soldaten fremd und exotisch. Die Quellen berichten:

„Sie lagerten auf dem Neuplatz bei ihren Pferden auf der Erde und brauchten zum Feuer, worauf sie kochten, einen Theil der Bäume aus der nahen Allee.“ – Lepping 1883, S. 24.

„Noch in der Nacht zogen Haufen von Kosacken in die Stadt und lagerten auf dem neuen Platz.“ – Hüffer 1854, S. 44.

„Die Kosaken […] biwakierten [Anm.: lagerten] auf dem neuen Platz und ließen sich dorthin Holz, Kühe, Fourage [Anm.: Pferdefutter] etc. liefern. […] Ihr Lager hatte sonderbares Ansehen: von Stroh machten sie eine Art Hütten, doch unbedeckt. Um große Feuer lagen sie herum, mit, neben und fast unter ihre Pferde, bedeckt mit ihre Mäntel [sic], einer über den andern, sodaß man Acht geben mußte, um es von einem Haufen Lumpen zu unterscheiden.“ – Druffel 1813, S. 146f.

Die Ankunft der Kosaken konfrontierte die Münsteraner mit einer unbekannten Kultur. Vor allem von November 1813 bis Februar 1814 hatte die Bevölkerung Gelegenheit, ihre Vorurteile und Vorstellungen von zarischen oder kosakischen Soldaten zu überprüfen. Bei der weiteren Untersuchung der Quellen ist festzustellen, dass oft verallgemeinernd von „Russen“ gesprochen wird, wenn nicht explizit zwischen den Soldaten aus dem Zarenreich differenziert wird. Allerdings handelt es sich hierbei um einen Begriff, der der ethnischen Vielfalt im Zarenreich nicht gerecht wird. Genauer ist der transethnische Ausdruck „russländisch“, der als Oberbegriff für alle im Zarenreich lebenden Ethnien verwendet werden kann.Nachdem am 7. November die kosakische Vorhut aus 60 bis 100 Mann eingetroffen war, trafen noch viele weitere zarische Soldaten in Münster ein. Die Zahlen sind größtenteils den Schilderungen des Geistlichen Nikolaus Antonius Lepping entnommen, und sollen hier einmal auf einen Blick zusammengefasst werden. Neben den in der Abbildung aufgeführten Soldaten aus dem Zarenreich kamen auch preußische Soldaten nach Münster. Lepping betonte außerdem selbst, dass er unmöglich alle Soldaten hatte erfassen können – seine Schätzungen müssten vermutlich nach oben korrigiert werden.

Zeitstrahl zum Eintreffen der russländischen Truppen.
Die eintreffenden russländischen Truppen auf einen Blick.
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Fotografie der Berliner Wuhlheide während eines ausverkauften Konzerts mit etwa 17000 Besuchern.
Ausverkauftes Konzert in der Berliner Wuhlheide mit etwa 17000 Besuchern.
© Arne Müseler | arne-mueseler.com | CC-BY-SA-3.0

Allein die Anzahl der Soldaten aus dem Zarenreich, die Münster durchquert haben, belief sich also auf mindestens 15.000 Mann. Zur Veranschaulichung: Würden all diese Soldaten auf einmal das Preußenstadion in Münster besuchen wollen, müssten einige von ihnen draußen bleiben – es fasst „nur“ 14.730 Zuschauer. Eine passende Visualisierung ist etwa die Festbühne Wuhlheide in Berlin – die Kapazität beläuft sich auf ungefähr 17.000 Besucher. Würden alle russländischen Soldaten, die von November 1813 bis Februar 1814 in Münster waren, die Wuhlheide auf einmal besuchen, würde das ungefähr so aussehen, wie auf nebenstehendem Foto.

Wenige Tage nach Ankunft der Kosaken wurde am 13. November der „Deutsch-russische Dolmetscher“ in Münster herausgegeben. Er enthielt eine Vokabelliste sowie einen Einleitungstext über russische und kosakische Kultur. Die vielen Soldaten brauchten eine Unterkunft und Versorgung. Ein Hilfsmittel zur Kommunikation – ein Dolmetscher – war unbedingt nötig.

Im Dolmetscher befanden sich neben einer deutsch-russischen Vokabelliste auch eine Form von Sachtext über russländische Soldaten. Im Mittelpunkt stehen russische und kosakische Soldaten, kurz werden andere russländische Ethnien benannt, die als Reitervölker galten. Zarische Soldaten galten als besonders widerstandsfähig. Ihre Ernährung bestand aus einfacher, deftiger Kost wie Sauerkraut, sauren Gurken und Kartoffeln,… Sie tranken viel Branntwein und Soldatenkwas, ein verdünntes Bier, und waren dementsprechend trinkfest. Lesen und schreiben konnten sie nicht, dafür beherrschten sie oft mehrere Handwerke. Das, die Anspruchslosigkeit und der Fleiß, die der „Dolmetscher“ den zarischen Soldaten nachsagte, macht sie zu hilfsbereiten Mitbewohnern. Der „Dolmetscher“ meint:

„Seine Liebe zur Thätigkeit macht ihn, wenn er in einem Hause etwas eingewohnt ist, zu einem sehr nützlichen Hausgenossen“, S. 5.

Bild des Deckblatts des Deutsch-russischen Dolmetschers, erschienen in Leipzig, 1813.
Deckblatt des Deutsch-russischen Dolmetschers, wie er in Münster vermutlich erschienen ist. Abgebildet ist die Kopie eines Exemplars, das 1813 in Leipzig erschienen ist. (Quelle: Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Signatur 1H71 (Bibl.))
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„Russische“ Soldaten seien sehr religiös, aber fremden Religionen gegenüber tolerant. Der „russischen“ Kultur seien viele Nationaltänze und -gesänge eigen.  Auf die Kosaken ging der Dolmetscher gesondert ein, da sie einen wichtigen Bestandteil der zarischen Kavallerie bildeten. Ihr wichtigster Besitz seien ihre Pferde gewesen. Dem Dolmetscher zufolge hätten sie außer Brot und Pferdefutter keinen Sold erhalten und seien demnach auf Beutezüge angewiesen gewesen, um sich zu versorgen. Ansonsten unterschieden sie sich wenig von den anderen zarischen Soldaten. Auch bei den Kosaken handelte es sich also um widerstandsfähige, aber anspruchslose und bescheidene Soldaten, wie der „Dolmetscher“ beschrieb:

„Sie sind in ihrer Lebensart, ihrer Religion, den übrigen Russen völlig gleich, und eben so abgehärtet als diese.“, S. 7.

Diese Vorstellung bewahrheitete sich nur bedingt. Auch in den Quellen erscheinen die Kosaken als talentierte Kämpfer – sie erbeuteten kurz nach ihrer Ankunft in Münster eine Kanone der französischen Soldaten und nahmen einige von ihnen gefangen. Ihr Ruf war ihnen vorausgeeilt: Die Garnison aus Minden, die kurz vorher noch in Münster Halt gemacht hatte, war nur wegen der Nachricht von den herannahenden Kosaken weitergezogen. Auch in Münster stahlen die Kosaken, um sich ernähren zu können:

„Denn die Kosaken kauften wohl, zahlten aber selten.“ – Lepping 1883, S. 24. 

„Außerhalb der Stadt haben sie mir bekannten Personen mit Gewalt die Uhren aus der Tasche genommen. Frauen die Kreuze vom Halse und die Ringe von den Fingern gerissen.“ – Lepping 1883, S. 24f. 

„Die Einquartierung lastete hart auf die Einwohner, wobei eben so sehr die Gefräßigkeit und der Diebessinn der Russen […] lästig fiel.“ – Hüffer 1854, S. 44.

Die von Hüffer bereits angesprochene Gier wird auch in Gertrud von Druffels Tagebüchern deutlich:

„Doch giengen [sie] auch mitunter von den andern in offen stehende Häuser und forderten.“ – Druffel 1813, S. 146.

Insbesondere die zarischen Offiziere nutzten die Gastfreundschaft der Münsteraner aus – und veranstalteten regelrechte Bankette auf Kosten ihrer Wirte. Auf diesen Festen fielen die Russländer durch ihren exzessiven Alkoholkonsum und ihre Volkstänze auf, wie Gertrud von Druffel als Angehörige der Oberschicht berichten konnte.  Ebenfalls negativ stach das kosakische beziehungsweise „russische“ Frauenbild heraus. Auf den Banketten wollten immer weniger Mägde kellnern, da es zu Belästigung gekommen war. Lepping beschrieb, wie die Kosaken „auf das weibliche Geschlecht ganz versessen“ gewesen seien (S. 25). Hüffer ging weiter ins Detail: Russländische Soldaten hätten immer wieder nach „liederlichen Weibsbildern“ (S. 45), also nach Prostituierten verlangt. Diese hatte man sogar aus den Nachbardörfern anwerben müssen, um dem großen Bedarf gerecht zu werden. Auf derartige Vorkommnisse bezog sich Leppings Bezeichnung der Kosaken als „fatale Nation“ (S. 24).

Ende Februar 1814 hatten die meisten Kosaken und anderen zarischen Soldaten Münster wieder verlassen und waren an der Einnahme von Paris im März 1814 beteiligt. Einzelne Truppen nahmen die Heimroute über Münster. Die Truppenbewegungen reichten aber nicht mehr an das Ausmaß von November 1813 bis Februar 1814 heran. Obwohl die Bevölkerung durch die Einquartierung in engem Kontakt mit den Soldaten stand, lassen sich keine Berichte über positive Kontakte finden. Der Aufenthalt russländischer Truppenverbände in Münster führte also nicht dazu, dass nachhaltige Beziehungen ins Zarenreich aufgebaut wurden. Vielmehr war man erleichtert, als die Truppen endlich wieder abgezogen waren. Hüffer sprach sogar vom „größten Glück für Münster" (S. 45).

Die Spuren vom Aufenthalt der russländischen Soldaten befinden sich in den Augenzeugenberichten – einige von ihnen wurden hier thematisiert. Es scheint, als sei die Zeit von November 1813 bis Februar 1814 für die Zeitgenossen einschneidend gewesen. Dieser Eindruck konnte aber nicht bis heute überdauern und findet sich kaum in der Sekundärliteratur wieder.

Aufgrund der hehren Masse russländischer Soldaten in Münster ist möglich, dass es auch positive Kontakte zwischen Münsteranern und Russen oder Kosaken gegeben hat. Von diesen wurde aber nicht berichtet. Es dominiert ein negatives Urteil: Es sei zu vielen Diebstählen gekommen, die Soldaten verhielten sich Frauen gegenüber ungehobelt und hätten schlechte Manieren. Sie seien viel zu gierig ihren Wirten gegenüber gewesen und hätten damit die finanzielle Not der Bevölkerung wegen des Krieges noch verstärkt. Die Berichte verallgemeinern ihr Urteil über alle „russischen“ oder kosakischen Soldaten hinweg. Nur vereinzelt scheint es eine differenzierte persönliche Auseinandersetzung gegeben zu haben. So richtete beispielsweise die Fürstin Marianne von Gallitzin ein Bankett für russische Offiziere aus. Aufgrund der Eheschließung ihrer Mutter Amalia von Gallitzin mit einem Fürst Gallitzin aus dem Zarenreich hatte das wohl persönliche Gründe. Auf diesem Bankett waren auch Münsteraner anwesend – es hatte aber anscheinend nicht gereicht, um bei den Anwesenden einen neuen Blickwinkel zu eröffnen oder gar einen Sinneswandel hervorzurufen, der sich auch auf die restliche Bevölkerung auswirkte.

Schaut man allgemeiner auf die Zeit der napoleonischen Kriege in Münster, so dominieren Auseinandersetzungen mit der französischen Besatzungszeit 1806 bis 1813. Am 18. November 1813 wurde Münster zunächst provisorisch – nach dem Wiener Kongress 1815 dann offiziell – preußisch. In Darstellungen sind es oft nur die Preußen, die den Machtwechsel veranlasst haben: das eindrückliche Erlebnis der Einquartierung einer so großen Anzahl kosakischer und russländischer Soldaten wird schlicht vernachlässigt. Teilweise finden sie nicht einmal Erwähnung in der Literatur.

Quellen- und Literaturangaben

  • Jakobi, Franz-Josef: Münster. Entstehung und Geschichte der Stadt vom 8. bis 20. Jahrhundert, Münster 2022.
  • Lahrkamp, Monika: Jahre des Umbruchs – Säkularisation und französische Herrschaft (1802–1815), in: Jakobi, Franz-Josef (Hrsg.): Geschichte der Stadt Münster Band 2, Münster 1993, S. 1–45.
  • Nicolaus Antonius Lepping, Mitteilungen aus einer kurz gefaßten Chronik der Jahre 1794–1832. Münster 1883.
  • Johann Hermann Hüffer, Erlebtes. Als Manuscript für seine Kinder gedruckt. Münster 1854.
  • Frau Medizinalrat Gertrud von Druffel, Tagebuch. ULB Handschriftenabteilung, Gallitzin Nachlass, Band 28.
  • Deutsch-russischer Dolmetscher, Münster 1813. LAV NRW W, 1 H 71 (Bibl.).

Weiterführende Literatur

  • Gehrmann, Udo: Rußlandkunde und Osteuropaverständnis im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Eine Studie zum deutschen Kosakenbild, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 40 (1992), S. 481–500.
  • Lahrkamp, Monika: Münster in napoleonischer Zeit 1800–1815. Administration, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen von Säkularisation und französischer Herrschaft. Münster 1976.