Minderjährige „Ostarbeiter“
© gemeinfrei
von Max Krax

Der elfjährige Nikolai Karpow kam 1943 gemeinsam mit seiner Großmutter aus dem sowjetischen Roslawl zur Zwangsarbeit nach Münster. Er wurde in Lagern in Gremmendorf und Hiltrup untergebracht. In seinem biografischen Text „Der kleine Ostarbeiter“ berichtet Karpow von den Lebensumständen in den Zwangsarbeiterlagern und von seinen harten Arbeitseinsätzen in Münster. Die Lektüre verdeutlicht, wie menschenverachtend der Umgang der Nationalsozialisten mit osteuropäischen Zwangsarbeitern war.

Neben den Juden wurden die slawischen Völker in der nationalsozialistischen Ideologie besonders verachtet. Während des Zweiten Weltkrieges wurden tausende Menschen aus dem Gebiet der Sowjetunion deportiert und zur Zwangsarbeit auf dem Gebiet des Deutschen Reichs verpflichtet. Auch in Münster leisteten die sogenannten „Ostarbeiter“ Zwangsarbeit. Die Art und Weise, in der man mit ihnen umging, macht die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten deutlich.

Cover von Nikolai Karpow: Der kleine Ostarbeiter. Münster 2013
Nikolai Karpow: Der kleine Ostarbeiter. Münster 2013
© Ardey-Verlag

Einer von den tausenden von „Ostarbeitern“, der diesen Umgang erlebt hatte, war Nikolai Karpow. Im Alter von elf Jahren kam er 1943 zusammen mit seiner Großmutter aus der Sowjetunion nach Münster und wurde hier etwa zwei Jahre lang als Zwangsarbeiter festgehalten. Karpows Erinnerungen, die er in seinem biografischen Text „Der kleine Ostarbeiter“ festgehalten hat, dienen heute als Quelle für die Erforschung der nationalsozialistischen Zwangsarbeiterpolitik  und zeigen die Berührungspunkte zwischen den „Ostarbeitern“ und der Münsteraner Bevölkerung. Diese kam während des Krieges zwangsläufig in verschiedenen Bereichen des Alltags mit den Zwangsarbeitern in Kontakt und profitierte bisweilen von ihrer Arbeit.

Karpows Geschichte zeigt auch, dass die eingesetzten Zwangsarbeiter zum Teil noch Kinder waren, denen schwere körperliche Arbeit oder hohe psychische Belastung nicht hätte zugemutet werden dürfen. Seine Spur führt an verschiedene Stellen des Münsteraner Stadtgebietes und zeigt an seiner persönlichen Lebensgeschichte die Grausamkeit der Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland.

Fotografie einer Infotafel am DAF-Lager Hiltrup
Infotafel am DAF-Lager Hiltrup
© Max Krax

Die erste Spur führt nach Münster-Gremmendorf. Hier kam Nikolai Karpow 1943 in Münster an und wurde in ein Zwangsarbeiterlager der Deutschen Arbeitsfront (DAF) gebracht. Die DAF hat neben diesem Lager unter anderem auch ein Lager im Stadtteil Hiltrup errichtet, in das Karpow zu einem späteren Zeitpunkt gelangen sollte.

Das Lager befand sich etwa dort, wo heute das Wohngebiet an der Birkenheide liegt. Die gesamte Wohnbebauung mitsamt der katholischen Kirche St. Bernhard stammt aus der Nachkriegszeit und lässt keine Schlüsse mehr auf die Vergangenheit dieses Straßenzuges zu. Der Ort war für ein solches Lager nahezu ideal: Es lag in einem wenig bebauten Gebiet und war somit gegenüber der Bevölkerung kaum sichtbar. Gleichzeitig konnten die Arbeiter in nur wenigen Minuten mit Lastwagen über die Kanalbrücke und somit in die Innenstadt zu ihren Arbeitsorten gefahren werden.

In den Beständen des Münsteraner Stadtarchivs befinden sich detaillierte Informationen über die Zwangsarbeiterlager. Über das Lager in Gremmendorf erfahren wir, dass dort 60 bis 100 Personen überwiegend osteuropäischer Herkunft untergebracht waren, die durch ständige, unbewaffnete Wachposten überwacht und durch einen Stacheldrahtzaun an der Flucht gehindert wurden.

Aus Nikolai Karpows Erinnerungen geht viel hervor über den Hunger, den die Insassen in den Arbeiterlagern tagtäglich leiden mussten. Die Lebensmittelrationen waren – auch vor dem Hintergrund der harten körperlichen Arbeit – viel zu gering, sodass sich die Zwangsarbeiter gezwungen sahen, bei der Stadtbevölkerung zu betteln, Lebensmittelreste in ausgebombten Häusern zu suchen oder im Dortmund-Ems-Kanal zu fischen.

Fotografie des heutigen Zustandes der Bunkeranlagen des ehemaligen DAF-Lagers in Münster-Hiltrup
Bunkeranlagen des ehemaligen DAF-Lagers in Münster-Hiltrup
© Max Krax

Die zweite Spur führt nach Hiltrup. Nachdem die Bombenangriffe auf Münster im Kriegsverlauf zugenommen hatten, wurden die Zwangsarbeiter aus dem Lager in Gremmendorf in das weiter außerhalb gelegene DAF-Lager nach Hiltrup verbracht. Dieses Lager trug den Namen „Waldfrieden“ und befand sich in unmittelbarer Nähe zum Kanal, und zwar auf dessen Ostseite auf der Höhe der Prinzenbrücke. Heute befindet sich dort eine kleine Parkanlage mit Wegen für Spaziergänger, die unmittelbar an verfallenen Bunkeranlagen vorbeiführen. Diese Bunker waren ein Teil des Lagers, aber den Wachsoldaten vorbehalten und den Insassen verwehrt.

Durch die Arbeit der Historikerin Gisela Schwarze ist über dieses Lager bekannt, dass es aus sechs Wohnbaracken, einer Küchenbaracke und einer Lagerführerbaracke bestand, und dass in jedem kleinen Raum innerhalb der Wohnbaracken 20 Personen auf engstem Raum untergebracht wurden.

Die dritte Spur führt auf das Gebiet des alten Zoos. Auf dem Areal zwischen Schlossplatz und dem nordöstlichen Aaseeufer befindet sich heute neben dem markanten Gebäude der Landesbausparkasse und dem Hallenbad Mitte auch der Parkplatz Lindenhof an der Himmelreichallee. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges trug nicht ein Parkplatz, sondern eine Gaststätte den Namen Lindenhof, deren Wirt Zwangsarbeiter verschiedener Nationen – darunter auch „Ostarbeiter“ – in der Küche und an der Theke beschäftigte.

Fotografie des ehemaligen Standorts der Gaststätte Lindenhof
Ehemaliger Standort der Gaststätte Lindenhof
© Max Krax

Nikolai Karpow war einer dieser Zwangsarbeiter. Er wurde vom Wirt aufgrund seines verhältnismäßig gepflegten Erscheinungsbildes angeworben. Während die Versorgung mit Lebensmitteln durch diesen Arbeitsplatz deutlich besser war als die streng rationierten Essensausgaben in den Arbeiterlagern, litten Karpow und seine Kollegen umso mehr unter regelmäßigen körperlichen Übergriffen des Wirtes auf die ihm unterstellten Zwangsarbeiter.

Die vierte Spur führt in die Münsteraner Innenstadt. Hier fällt es jedoch schwer, einen konkreten Ort zu benennen, denn es geht um die Beseitigung der Trümmer nach den Bombenangriffen auf die Stadt. Um die Überreste der zerstörten Häuser von den Straßen zu schaffen und die Toten aus den Ruinen zu bergen, wurden ebenfalls Zwangsarbeiter eingesetzt.

Die Eindrücke vom zerstörten Münster, die Karpow bei dieser Arbeit wahrgenommen hat, beschreibt er als besonders prägend. In Erinnerung blieb ihm etwa der Geruch der in den zerbombten Häusern verwesenden Leichen, die in dem Wasser, das durch die zerstörte Kanalisation in die Wohnhäuser eingedrungen war, ertrunken waren.

In diesen vier exemplarischen Spuren, zu denen die Beschäftigung mit Nikolai Karpow und seinen Erinnerungen geführt hat, wird die Grausamkeit der nationalsozialistischen Zwangsarbeiterpolitik deutlich. Die Spuren zeigen, dass die Arbeitskraft der Zwangsarbeiter maximal ausgenutzt wurde, ohne jegliche Rücksicht auf körperliche Unversehrtheit oder psychische Folgen zu nehmen. Es spielte für die Nationalsozialisten keine Rolle, ob ein Arbeiter ein erwachsener Mann oder – wie Nikolai Karpow – ein elfjähriges Kind war.

Doch nicht nur das nationalsozialistische Regime profitierte von den „Ostarbeitern“: Auch Münsteraner Unternehmer oder Privatleute nahmen die Arbeitskraft dieser Menschen in Anspruch – und ihr Schicksal billigend in Kauf, sei es aus vermeintlicher Unwissenheit oder aus Überzeugung von der nationalsozialistischen Ideologie.

Durch die Arbeit von Gisela Schwarze, die auch an der Veröffentlichung der Erfahrungen Karpows mitgewirkt hat, sowie durch die Informationen aus dem Münsteraner Stadtarchiv, sind heute umfangreiche Informationen über die Zwangsarbeit der „Ostarbeiter“ in Münster verfügbar. Dennoch scheint dieses Thema in der Erinnerungskultur unserer Stadt kaum präsent zu sein; dabei hat es die rassistische Verfolgung und Ausbeutung von Menschen mit osteuropäischer Herkunft als Teil der nationalsozialistischen Ideologie auch hier in Münster gegeben. Es ist an der Zeit, diese Verbrechen aufzuarbeiten und sichtbar zu machen.

Weiterführende Literatur

  • Karpow, Nikolai: Der kleine Ostarbeiter. Münster 2013.
  • Schwarze, Gisela: Gefangen in Münster. Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Zwangsarbeiterinnen 1939 bis 1945. Essen 1999.