von Steffen Herzig

Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland betraf über dreizehn Millionen ausländische Arbeitskräfte. Während die Forschung das Thema in den letzten zwanzig Jahren intensiv aufgegriffen hat, ist über jene Zwangsarbeiter, die für die öffentliche Hand tätig waren, vergleichsweise wenig gearbeitet worden. Neu sind insbesondere Forschungen zur Frage, inwiefern auch die Universität Münster in das System der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte involviert war.

Christian-Alexander Wäldner ist es gelungen, in seiner Dissertationsschrift von 2022 nachzuweisen, dass – ausgehend von 36 identifizierten Verdachtsfällen – 27 Personen „zweifelsfrei“ zu Zwangsarbeit für die Universität verpflichtet worden waren. Nach Ablauf der Sperrfrist ist es nun möglich, in Archivalien den Einzelschicksalen der Ukrainerinnen Tatjana B. und Anna M. nachzugehen, die an der Universität Münster Zwangsarbeit verrichten mussten.

Zwangsarbeit für die Universität Münster

Scan der Arbeitskarte der „Ostarbeiterin“ Tatjana B. (Quelle: Universitätsarchiv Münster, 477/19)
Arbeitskarte der „Ostarbeiterin“ Tatjana B. (Quelle: Universitätsarchiv Münster, 477/19)
© gemeinfrei

In der rassenideologischen Hierarchisierung des NS-Regimes galten die Ukrainerinnen Tatjana B. und Anna M. als „Ostarbeiterinnen“, die als Teil der NS-Ideologie umfassender rassistischer Diskriminierung ausgesetzt waren. Die 1923 geborene Tatjana B. war seit dem 15. Februar 1944 als „Hausgehilfin“ bzw. „Haus-Wasch-Küchen-Mädchen“ in der Universitätsklinik Münster tätig. Ihre Klassifizierung erfolgte auf Grundlage des ihr zugeschriebenen Heimatorts in der heutigen Ukraine, Krywyj Rih.

Auch Anna M., deren Personalakte auf 26 Seiten überliefert ist, wurde 1921 in Winnyzja, Ukraine, geboren. Sie wurde zunächst als Zwangsarbeiterin in den Kupfer- und Drahtwerken in Osnabrück eingesetzt, bevor die Universität Münster sie in ihrer Augenklinik einsetzte. Es kam zur Verlegung, nachdem Anna M. sich infolge eines Arbeitsunfalls eine Augenverletzung zugezogen hatte und daraufhin im Dezember 1943 als Patientin in die Augenklinik der Universität Münster eingeliefert wurde.

Das Ringen öffentlicher Institutionen um die Zwangsarbeiterinnen

Noch während sich Anna M. in der Behandlungsphase ihrer Verletzung in der Münsteraner Augenklinik befand, intervenierte die Klinikumsverwaltung der Universität am 27. Dezember 1943 beim Arbeitsamt Münster, um die Patientin aufgrund des Arbeitskräftemangels anschließend als „Hausmädchen“ im Lazarettbetrieb der Augenklinik einzusetzen.

Briefwechsel um Anna M.

Gesuch der Universitätskliniken um „Freigabe“ von Anna M. „für den Dienst in der Universitätsaugenklinik“, 1/2. (Quelle: Universitätsarchiv Münster, 477/14)
Gesuch der Universitätskliniken um „Freigabe“ von Anna M. „für den Dienst in der Universitätsaugenklinik“, 1/2. (Quelle: Universitätsarchiv Münster, 477/14)
© gemeinfrei
  • Gesuch der Universitätskliniken um „Freigabe“ von Anna M. „für den Dienst in der Universitätsaugenklinik“, 2/2. (Quelle: Universitätsarchiv Münster, 477/14)
    © gemeinfrei
  • Antwort des Arbeitsamtes auf das Gesuch der Universitätskliniken. (Quelle: Universitätsarchiv Münster, 477/14)
    © gemeinfrei

Mit dem Arbeitsamt Osnabrück, das eine zeitnahe Rückkehr der verletzten „Ostarbeiterin“ Anna M. nach Osnabrück wünschte, entwickelte sich daraufhin eine mehrmonatige Korrespondenz. In dieser wurde darum gestritten, ob Anna M. in Münster als Zwangsarbeiterin verbleiben sollte, obwohl auch Osnabrück von massivem Arbeitskräftemangel betroffen war. Am 18. Februar 1944 teilte das Arbeitsamt Münster den Universitätskliniken mit, dass Anna M. für den „Einsatz in den städtischen Krankenanstalten in Osnabrück“ vorgesehen sei. Dennoch konstatierte die Universität Münster gegenüber dem Arbeitsamt zehn Tage später einen akuten Arbeitskräftemangel mit der Bitte um die „Freigabe“ von Anna M., bis eine passende „Ersatzkraft“ gefunden sei. Das Arbeitsamt Münster verfügte am 09. März 1944 hingegen, Anna M. unmittelbar nach Osnabrück in „Marsch zu setzen“.

Die darauffolgende Reaktion der Universität stellte den Höhepunkt des institutionellen Konkurrenzkampfes dar: In dem Schreiben vom 15. März 1944 ließ der Klinikdirektor mitteilen, dass Anna M. schwer ersetzbar sei, sodass sie doch für die Verrichtung von Zwangsarbeit an der Universität freigegeben werden solle. Dem verlieh die Universität Nachdruck, indem sie Anna M.s Einsatz „kriegswichtige Bedeutung“ zuschrieb.

Am 04. Januar 1944 gab das Arbeitsamt Münster schließlich nach und stimmte zu, Anna M. auf Widerruf in der universitären Augenklinik in Münster zu belassen. Die Beteiligung der Arbeitsämter Osnabrück und Münster am Ringen um die ukrainische Zwangsarbeiterin Anna M. vermittelt einen Eindruck davon, wie organisiert der Einsatz von Zwangsarbeitern aus der besetzten Ukraine erfolgte – eine Organisationsfähigkeit, die offenkundig an den Erfahrungen geschult war, die im 1939 militärisch besiegten Polen gesammelt worden waren.

Insgesamt waren Briefwechsel um die „Verschiebung“ von Zwangsarbeitskräften aufgrund des allgegenwärtigen Bedarfs an Arbeitskraft kein Einzelfall: Am 12. September 1944 teilte die Verwaltungsinspektion der Universitätskliniken Münster der Universitätsklinik Münster mit, dass die Ukrainerin Tatjana B. zur Zwangsarbeit nach Osnabrück überführt werden solle. Die Universität wog ab: Statt Tatjana B. gab sie Anna M. „frei“, um deren Verbleib als Zwangsarbeiterin sich die universitäre Verwaltung über Monate hinweg mit dem Arbeitsamt Osnabrück in schriftlicher Auseinandersetzung stritt: „Nach freimündlicher Rücksprache mit dem Arbeitsamt – Frau B[…] – wird anstelle Tatjana B. die Ostarbeiterin Anna M. abgegeben.“ Sowohl zu Anna M. als auch zu Tatjana B. sind im Universitätsarchiv Verdienstbescheinigungen vom Januar 1946 überliefert. Über ihr weiteres Schicksal ist jedoch bislang nichts bekannt.

Die Universität Münster als lokale Akteurin der NS-Zwangsarbeit

Die Arbeitsämter Münster und Osnabrück waren im Zusammenspiel mit der Universität Münster für die Organisation der Einsätze von Zwangsarbeiterinnen wie Anna M. oder Tatjana B. zentral. Die dargelegte Korrespondenz veranschaulicht, wie die NS-Zwangsarbeitspolitik in ihrer Umsetzung nicht allein vom Staatsapparat gewünscht war, sondern initiativ auch von Institutionen wie der Universität Münster ausging. „Ostarbeiter“, so legen es die Briefwechsel nahe, wurden dabei warenähnlich beliebig hin und her verschoben. Wie auch auf dem Feld der landwirtschaftlichen Zwangsarbeit in Münster, bei der primär Verbände und Gesellschaften Anträge für Zwangsarbeiterzuweisung stellten, beteiligte sich die Universität Münster auf eigene Initiative um den Erhalt von Zwangsarbeitern. Damit reiht sich die Universität in das Verhalten vieler anderer Institutionen der öffentlichen Hand während des Zweiten Weltkriegs ein.   

Quellenangaben

  • Universitätsarchiv Münster 477/14 (Anna M.).
  • Universitätsarchiv Münster 477/19 (Tatjana B.).

Weiterführende Literatur

  • Buggeln, Marc: Die Zwangsarbeit im Deutschen Reich 1939–1945 und die Entschädigung vormaliger Zwangsarbeiter nach dem Kriegsende: Eine weitgehend statistische Übersicht, in: Elizabeth Harvey, Kim Christian Priemel (Hgg.): Working Papers of the Independent Commission of Historians Investigating the History of the Reich Ministry of Labour (Reichsarbeitsministerium) in the National Socialist Period (= Working Papers Series A, Nr. 4), Berlin 2017.
  • Greve, Swantje: Die Arbeitskräfterekrutierungen im Reichskommissariat Ukraine während des Zweiten Weltkriegs, in: Elizabeth Harvey, Kim Christian Priemel (Hgg.): Working Papers of the Independent Commission of Historians Investigating the History of the Reich Ministry of Labour (Reichsarbeitsministerium) in the National Socialist Period (= Working Papers Series A, Nr. 14), Berlin 2017.
  • Wäldner, Christian-Alexander: Maßnahmenstaatlicher „Ausländereinsatz“ & wissenschaftliche Kriegsführung an sämtlichen deutschen Technischen Hochschulen sowie an 15 Universitäten. Schwerpunkt TH Hannover 1941 bis 1945 (= Mimikry 23, Bd. 1), Hannover 2022.