Aus historischer und kunstgeschichtlicher Perspektive
Ausstellung eines Studierendenprojektes unter der Leitung von Prof. Dr. Jens Niebaum und Prof. Dr. Ricarda Vulpius
Diese Ausstellung bildet den Ertrag einer im Wintersemester 2022/23 zum gleichen Thema durchgeführten interdisziplinären Übung von Jens Niebaum und Ricarda Vulpius. Hintergrund war die Beobachtung, dass in wesentlichen Teilen der Gesellschaft nur sehr geringe Kenntnisse über das Land vorliegen, das durch Russlands Angriffskrieg plötzlich in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet. Es war der Leitgedanke der Übung, der russischen Propaganda, die das Recht der Ukraine auf Eigenstaatlichkeit negiert und dies mit einer fehlenden ukrainischen Identität und ukrainischen Geschichte begründet, gerade die intensivierte Beschäftigung mit dieser Geschichte entgegenzustellen.
Ukrainische Erinnerungsorte - Ein Überblick
Konzeption
Als Ausgangspunkt standen die Studierenden vor einer Auswahl von 37 „Orten“, die in herausragender Weise mit der ukrainischen Geschichte, ihren Wechselfällen und Brüchen verbunden sind, an denen sich also die Konstruktion einer ‚nationalen‘ Identität – wie zum Teil eben auch deren Negation – in besonderer Weise kristallisiert und beobachten lässt. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer konnte dann nach Neigung und Interesse einen Erinnerungsort zur Bearbeitung auswählen.
Von den insgesamt 18 Übungsteilnehmern stellen hier 13 Studierende ihre Aufarbeitung des von ihnen jeweils ausgesuchten „Ortes“ vor, so dass die Ausstellung in doppelter Hinsicht einen studentischen Zugang zum Thema manifestiert. Zugleich bedeutet diese Auswahl auch, dass mit der Ausstellung in keiner Weise ein repräsentativer Anspruch erhoben wird. Im Gegenteil – äußerst bedeutsame Erinnerungsorte aus Charkiw, Jalta, Poltawa und Kamjanec-Podilskyj (um nur die wichtigsten zu nennen) sind außen vorgeblieben. Stattdessen hat sich mit den neun ausgesuchten Erinnerungsorten aus Kiew ein größerer Schwerpunkt auf der Hauptstadt ergeben, als ursprünglich beabsichtigt war. Daneben sind Lemberg, Czernowitz, Odessa und Tschernobyl mit jeweils nur einem Poster vertreten.
Gleichwohl spannt das Spektrum der ausgewählten Objekte einen Bogen über die bedeutsamsten Epochen der zunächst ostslawischen und dann allmählich ukrainischen Geschichte: Es reicht von der ersten Glanzzeit der Kiewer Rus im 11. Jahrhundert (Höhlenkloster, Sophienkathedrale, Goldenes Tor, Michaelskloster) über die einflussreiche Zeit in Polen-Litauen (Armenische Kathedrale Lemberg), das für spätere ukrainische Narrative besonders relevante 17. Jahrhundert mit dem Hetmanat der Kosaken zwischen Polen-Litauen auf der einen und dem Moskauer Reich auf der anderen Seite (Mohyla-Akademie, Freiheitsbogen), über die Zugehörigkeit im 18. und 19. Jahrhundert entweder zum Habsburger Reich (Jüdisches Czernowitz) oder zum Russländischen Imperium im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert (Potem’kinsche Treppe in Odessa) bis hin zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die die Ukraine in besonderem Maße getroffen haben – der Holodomor, die Shoah (Jüdisches Czernowitz, Babyn Jar) und der Reaktorunfall von Tschernobyl –, sowie zu den ukrainischen Freiheitsbewegungen der letzten zwei Jahrzehnte (Majdan).
Diese in fast allen Postern wiederkehrenden historischen Bezugspunkte spiegeln nicht nur die besondere ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Vielfalt der heutigen Ukraine wider. Sie zeigen vor allem die überaus enge Verflechtung der ukrainischen Geschichte mit jener von ganz Europa. Es sind also nicht erst die jüngsten Freiheitsbewegungen unter dem Banner der Europäischen Union, mit denen die Ukraine sich „Europa“ zuwendet: Vielmehr soll die Ausstellung deutlich machen, wie sehr das 1000-jährige kulturelle Erbe der Gebiete der heutigen Ukraine in die europäische Geschichte und in ein gesamteuropäisches Koordinatensystem kollektiver Erinnerungen eingebunden ist, sei es durch das Anknüpfen der Großfürsten der Kiewer Rus an Konstantinopel (Sophienkathedrale, Goldenes Tor) und an Westeuropa (Heiratsverbindungen), durch die Einbindung in die auch für Westeuropa prägende Epoche von Reformation und Gegenreformation (Mohyla-Akademie, Armenische Kathedrale Lemberg), durch die Verbreitung des Magdeburger Stadtrechts bis nach Kiew, durch die Vielfalt jüdischen Lebens und seine engen Verbindungen mit dem Habsburger Reich (Jüdisches Czernowitz), aber auch durch die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges und der Shoah (Babyn Jar).
Jedes Poster baut auf einer ähnlichen Struktur auf, wonach einer zusammenfassenden Vorstellung des Erinnerungsortes die Entstehungsgeschichte folgt, ergänzt durch eine Charakterisierung des baulichen und ggf. bildlichen Aussehens und einer anschließenden historischen Kontextualisierung des „Ortes“ sowie seines erinnerungsgeschichtlichen Wandels. Immer wieder wird dabei auch die Brücke zur aktuellen Situation geschlagen und verdeutlicht, wie sehr der gegenwärtige Krieg die Erinnerungskultur des Landes einerseits betrifft und andererseits in ihr fundiert ist. Jeder Erinnerungsort wird zudem zur besseren Profilbildung mit einem thematisch ähnlich gelagerten „Objekt“ oder „Erinnerungsort“ aus einem anderen historischen Kontext verglichen.
Mit dem Begriff der „Erinnerungsorte“ greift sowohl die Übung als auch diese Ausstellung auf ein Konzept zurück, das in den 1980er Jahren von dem französischen Historiker Pierre Nora geprägt wurde. Der Begriff bezeichnet ein spezifisches, von Nora entwickeltes Forschungsparadigma, das seither vor allem in den Geschichts- und Kulturwissenschaften vielfach rezipiert worden ist. Der Wortbestandteil des „Ortes“ ist dabei im Sinne von „Topos“ zu verstehen, nicht hingegen in einer geographischen Form: Mit Erinnerungsorten sind also zunächst einmal nur diskursive Chiffren gemeint, von denen Wissenschaftler annehmen, dass sie für mindestens Teile großer Gemeinschaften eine traditions- und identitätsstiftende Rolle spielen. Wenn für diese Ausstellung in Abweichung von Noras Konzept dennoch ausschließlich geographisch lokalisierbare Orte ausgewählt wurden, so erklärt sich dies aus dem kombinierten Interesse der Veranstaltung an der historischen und kunstgeschichtlichen Dimension. Besonders interessant werden Erinnerungsorte dann, wenn sich im Laufe verschiedener Epochen ein Wandel ihrer erinnerungsgeschichtlichen Bedeutung feststellen lässt, wie dies exemplarisch beim Poster zum Freiheitsbogen nachzuvollziehen ist.
Die Poster zeugen insgesamt von einem nicht nur großen Interesse der beteiligten Studierenden für ein europäisches Land, das den meisten von ihnen bisher kaum bekannt war. Sie sind vor allem ein Zeugnis davon, mit welch herausragendem Engagement Studierende an der Universität Münster bereit sind, sich jenseits dessen, was für den Erhalt von „Scheinen“ und Punkten notwendig ist, mit Themen wissenschaftlich auseinanderzusetzen, die sie sich selbst gewählt haben.