Hütte im Kriegsgefangenenlager Haus Spital, Illustration von A. Potage zum Kriegstagebuch von Sergent Pierre (Lille 1920)
Das Kriegsgefangenenlager I – Ein längst vergessenes Stück Münsteraner Stadtgeschichte
© gemeinfrei
von Severin Stegemann

Zur Zeit des Ersten Weltkriegs befanden sich in Münster drei Kriegsgefangenenlager. Das bekannteste war das „Kriegsgefangenenlager I“ am Haus Spital im Stadtteil Nienberge. Es zeugt von unmenschlichem Leid, der Sehnsucht nach Geborgenheit und dem Wunsch nach Frieden. Der folgende Beitrag soll ein dunkles Kapitel Münsteraner Stadtgeschichte erhellen und denzahllosen Gefangenen – allein 21.000 befanden sich im „Kriegsgefangenenlager I“ – eine Stimme verleihen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die erschütternden Lagerzustände russländischer Gefangener gelegt.

Es liegt nicht lange zurück, dass die Historikerin Uta Hinz eine Arbeit mit dem Titel „Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg – eine vergessene Geschichte“ vorgelegt hat. Und dieser Titel trifft den Punkt: Nur wenige wissen von diesem dunklen Kapitel deutscher Vergangenheit. Dass knapp 90.000 Kriegsgefangene bei knapp 100.000 Einwohnern zwischen 1914 und 1918 in Münster untergebracht waren, erscheint auf den ersten Blick wie eine hehre Ziffer. Doch in der Tat: Allein drei Kriegsgefangenenlager entstanden innerhalb von Münsters Stadtgrenzen. Neben einem Kriegsgefangenenlager an der „Alten Reitbahn“ unweit des Preußenstadions und einem Kriegsgefangenenlager an der Grevener Straße entstand das Kriegsgefangenenlager I bei Haus Spital in Nienberge. Es war und ist das wohl bekannteste aller drei, nicht nur, weil es relativ gesehen am besten erforscht ist, sondern vor allem, weil es mit dem noch heute existierenden Ehrenfriedhof Haus Spital (Ecke Rüschhaus) eine besondere Verbindung einging.

Flyer der Expedition Münsterland zum Kriegsgefangenenlager Haus Spital (2014)
Flyer der Expedition Münsterland zum Kriegsgefangenenlager Haus Spital (2014)
© Universität Münster

Rasch bildete sich in den ersten Kriegsjahren nach 1914 ein stacheldrahtumzäuntes Massenlager heraus. Bereits die Umstände legen nahe, dass sich die Umsetzung völkerrechtlicher Bestimmungen gemäß der Haager Landkriegsordnung von 1907 als schwierig erweisen sollte. Ein genauerer Blick auf die Lebenszustände russländischer Kriegsgefangener liefert einen Einblick in das schwere Leben in den Lagern.

Der Ort, seine Geschichte und seine Bedeutung sind heute in Vergessenheit geraten. Der angrenzende Friedhof ist die einzige sichtbare Hinterlassenschaft. Er berichtet allerdings „nur“ über den Tod und nicht über das Lagerleben. Die Gefangenen bleiben stumm, die Einzelschicksale im Verborgenen.

Das Ende des Krieges bedeutete auch das Ende des 1914 errichteten Kriegsgefangenenlagers. Letzte Überbleibsel wurden Mitte des 20. Jahrhunderts abgetragen. Einzig die großen, teils nicht öffentlich zugänglichen Bestände des Stadtarchivs Münster geben den ehemals Gefangenen eine Stimme und liefern dem Historiker wertvolle Erkenntnisse. Ein 2014 in Kooperation von Fachhochschule und Universität Münster durchgeführtes Forschungsprojekt fand unter dem Namen „Ich sehe was, was du nicht siehst“ statt und erschloss der breiten Öffentlichkeit das Gelände erstmals aus einer historischen Perspektive.

Krieggefangenschaft im Ersten Weltkrieg

Cover von Uta Hinz: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921. Essen 2006
Uta Hinz: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921. Essen 2006
© Klartext Verlag

Bis zu acht Millionen Soldaten gerieten während des Ersten Weltkriegs in Gefangenschaft. Geht man gesamt von etwa 60 Millionen Soldaten aller Nationen aus, entspricht die Zahl mehr als zehn Prozent aller Mobilisierten! Und dennoch: Fällt das Wort „Kriegsgefangenschaft“, assoziiert man dies primär mit dem Zweiten Weltkrieg. Die Gründe liegen auf der Hand. Der Zweite Weltkrieg und die NS-Zeit mit ihren Grauen dominieren die heutige Erinnerungskultur in Deutschland. Kenntnisse zur Kriegsgefangenschaft und zu Kriegsgefangenenlagern aus der Zeit des Ersten Weltkrieges sind hingegen nur wenig verbreitet. Dabei hatte das Deutsche Reich unter den Kriegsparteien die meisten gegnerischen Soldaten gefangengenommen. Für knapp zweieinhalb Millionen Menschen, die in deutscher Kriegsgefangenschaft waren und aus dreizehn Staaten stammten, gab es 96 Mannschaftslager und 80 Offizierslager.

Ein wesentlicher Grund dafür, dass es bislang nur wenig weitergehende Untersuchungen gibt, ist die spärliche Quellenlage. Das gilt auch für Münster: Im Wesentlichen sind es französische und englische Quellen, die einen Einblick in das Lagerleben gewähren, viele davon in privater Hand und eben nicht in öffentlich zugänglichen Archiven! Die Situation russländischer Gefangener ist nur über fremde Beschreibungen zugänglich. Den Gefangenen war es grundsätzlich verboten, ihre Lebensumstände zu dokumentieren. Es sind nur Einzelfälle überliefert, in denen Inhaftierte heimlich Notizen machten, etwa das Kriegstagebuch des Sergent Pierre (s. o. Titelbild).

Lagerleben

Fotografie des Kriegsgefangenenlagers Haus Spital: Lagerhof mit „Dorfstraße“, Unterkünfte, Versorgungsbaracken, ohne Datum (Quelle: Stadtarchiv Münster, Fotosammlung Nr. 3756)
Kriegsgefangenenlager Haus Spital: Lagerhof mit „Dorfstraße“, Unterkünfte, Versorgungsbaracken, ohne Datum (Quelle: Stadtarchiv Münster, Fotosammlung Nr. 3756)
© gemeinfrei
Fotografie von Kriegsgefangenen im Notlager Haus Spital, mit Erdhütten als Notunterkünften und Windunterständen, September 1914 (Quelle: Stadtarchiv Münster, Fotosammlung Nr. 3799)
Kriegsgefangene im Notlager Haus Spital, mit Erdhütten als Notunterkünften und Windunterständen, September 1914 (Quelle: Stadtarchiv Münster, Fotosammlung Nr. 3799)
© gemeinfrei

„Im Schlamm steckte die Sehnsucht nach Heimat“ – mit diesen markanten Worten machte ein Zeitungsartikel vom 7. Juli 2014 in den Westfälischen Nachrichten auf die damalige Not der in Münster untergebrachten Gefangenen aufmerksam. Andere Überlieferungen sprechen die gleiche Sprache: Die Situation für die Inhaftierten vor Ort war prekär. Die Behandlung der Kriegsgefangenen sollte eigentlich durch die Haager Landkriegsordnung von 1907 geregelt werden. Demnach galt das Gebot, die Gefangenen mit Menschlichkeit zu behandeln und sie den eigenen Truppen – was Nahrung und Unterkunft anbelangte – gleichzustellen. Doch die Umsetzung völkerrechtlicher Bestimmungen erwies sich schon bald als schwierig. Die Landkriegsordnung beruhte mit ihren Regelungen auf der Kriegsführung des vorigen Jahrhunderts: Sie sah etwa keine Sanktionen bei Verstößen vor, und die Auszahlung an Sold an gefangene Offiziere. Nun erfolgte die erstmalige Bewährung unter den Bedingungen eines industrialisierten Massenkrieges. In der Praxis wurde das Völkerrecht bewusst nicht eingehalten. Die Gefangenen wurden zur Arbeit in Industrie, Bergbau und Landwirtschaft gezwungen. Der durch den Fronteinsatz entstandene Mangel sollte dadurch kompensiert werden. Das Kriegsgefangenenlager I in Nienberge war zunächst als provisorisches Notlager gedacht. Das lässt sich der Chronik des Münsteraner Kriegschronisten Eduard Schulte entnehmen:

„Zum Schutze gegen den ständigen Regen wurden zunächst ganze Reihen schräger Holzgerippe aufgerichtet und mit wasserdichten Plantüchern bespannt. Aus Brettern und Balken bauen sich viele selbst warme Erdhütten in der Art von Unterständen. Die Unterbringung war vorläufig noch mit großen Schwierigkeiten verbunden […]“ – Schulte 1930, S. 267

Die Situation blieb prekär. Das belegen Aufnahmen aus den kommenden Monaten. Die Lager waren restlos überfüllt, Bränden und Naturkatastrophen schutzlos ausgeliefert. Schulte schrieb dazu:

„Dieser Umstand lockte eine Vielzahl von Schaulustigen an, um die zum Teil sehr ungepflegt aussehenden Franzosen anzustarren und sich von den hochmütigen Engländern überlegen betrachten zu lassen“ – Schulte 1930, S. 267

Fluchtversuche waren an der Tagesordnung. Wer einen flüchtigen Kriegsgefangenen bei sich aufnahm, riskierte eine drakonische Freiheitsstrafe von bis zu mehreren Jahren. Dabei sind etliche Berichte überliefert, denen zufolge Bauernfamilien aus dem Münsterland Kriegsgefangene aus dem Lager I aufnahmen und bis weit nach Kriegsende engen Kontakt zu ihnen pflegten.

Situation russländischer Gefangener

Wie bereits angerissen, verweist die Behandlung der Kriegsgefangenen auf die öffentliche Notsituation. Die Isolation des Deutschen Reichs vom Weltmarkt und Wetterextreme ließen die ohnehin angespannte Ernährungslage noch angespannter werden. Es sind Berichte von Franzosen und Engländern überliefert, wonach sie ohne regelmäßige Hilfssendungen aus der Heimat nicht überlebt hätten. Das erklärt auch die Trennung nach Nationalitäten. Durch die Wirren im Russländischen Reich – wie die doppelte Revolution von 1917 und den sich anschließenden Bürgerkrieg – war an Hilfspakete von Freunden oder der Familie aus dem Osten kaum zu denken. So sind etliche Klagen russländischer Bürger über geringe Zusendungen aus der Heimat überliefert. Dass im Lager I eine weitestgehende Selbstverwaltung herrschte, die Inhaftierten sich größtenteils um sich selbst sorgen mussten, verschärfte die Situation weiter. Die Klagen über mangelnde Ernährung rissen nicht ab. Selbst nach Kriegsende gab es noch zahlreiche Todesfälle. Viele von ihnen fanden im angrenzenden „Ehrenfriedhof Haus Spital“ (heutzutage umgangssprachlich auch als „Russenfriedhof“ bekannt) ihre letzte Ruhestätte. Dieser noch heute bestehende Friedhof zeugt vom Leid der Kriegsgefangenen im Lager I. Er ruft die Einzelschicksale der Verstorbenen ins Gedächtnis (siehe dazu auch den Beitrag von Clemens Leonidas).

1920 waren noch knapp 200.000 russländische Gefangene fernab ihrer Heimat. Hilfsorganisationen wie die westfälischen Bezirksfürsorgeverbände versuchten, ihre Not zu lindern. Durch kommunal angelegte, aber auch oft durch Privatpersonen initiierte Unterstützungsmaßnahmen, sollte den Verbliebenen das tägliche Leben erleichtert werden, etwa durch Sammelaktionen und Spendenaufrufe.

Ausblick

Es ist wichtig, die Erinnerung an das Leid der Kriegsgefangenen und an das Lager wachzuhalten. Die Schicksale zahlreicher russländischer Gefangener liegen noch im Verborgenen und bedürfen weiterer Recherchen. Dass heutzutage keine Überreste des Lagers mehr vorhanden sind, erschwert die Forschung. Umso wichtiger ist es, ein vergessenes Stück Münsteraner Stadtgeschichte, das Kriegsgefangenenlager I im Stadtteil Nienberge, weiter aufzuarbeiten, und die Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit näherzubringen.

Weiterführende Literatur

  • Hinz, Uta: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte 19), Essen 2006.
  • Pierre, Sergent: Un parc à prisonniers. Haus Spital, près Münster en Westphalie, illustrations par A. Potage, Lille 1920. (Erhältlich im Stadtarchiv Münster)
  • Thomas, P.: Sergent Pierre. — Un parc à prisonniers: Haus Spital, près Münster en Westphalie, illustrations par A. Potage, in: Revue du Nord 26 (1921), S. 141–143.
  • Schulte, Eduard: Kriegschronik der Stadt Münster 1914/1918 im Auftrage des Magistrats geführt von Eduard Schulte (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster 6), Münster 1930.