August Stramm, geboren am 28. Juli 1874 in Münster, verbrachte nur die ersten fünf Jahre seines Lebens in jener Stadt, in der heute sein Nachlass in der Universitäts- und Landesbibliothek einzusehen ist. Er diente als Kompanieführer im Ersten Weltkrieg zunächst an der Westfront und später an der Ostfront, wo er am 1. September 1915 in der Nähe von Horodec im heutigen Belarus fiel. Als Schriftsteller erlangte Stramm erst posthum größere Anerkennung. Heute zeigen uns seine Gedichte und sein Nachlass eine ungeschönte Geschichte des Ersten Weltkrieges.
Das nebenstehende Bild zeigt August Stramm noch vor dem Krieg in seiner Uniform posierend. Wie ist er mit den Erlebnissen des Ersten Weltkrieges umgegangen und wie hat er die Ereignisse bis kurz vor seinem Tod für sich verarbeitet? In seinen Briefen gelingt es ihm, eine ergreifende Geschichte des Krieges zu schildern. Das Bild mag zunächst den Eindruck von Stramm als einem patriotischen Preußen erwecken, und das war er in gewisser Hinsicht auch. Dennoch war Stramm in erster Linie ein kritischer Kombattant in einem Krieg, den er selbst verabscheute.
Stramm verbrachte nur die ersten fünf Jahre seines Lebens in Münster, genau jene Zeit, an die sich der Mensch kaum erinnert. Er kehrte auch nie nach Münster zurück, trotzdem ist Münster aus verschiedenen Gründen ein zentraler Ort, um sich mit Stramm zu beschäftigen. Zum einen ist die Universitäts- und Landesbibliothek Münster seit 1935 im Besitz des Nachlasses von August Stramm, zum anderen hat sich die Erinnerungskultur in Münster rund um August Stramm seit dem 75-jährigen Jubiläum seines Todestags gewandelt. Denn anlässlich dieses Ereignisses fand in Münster eine interdisziplinäre Veranstaltungsreihe unter dem Titel „August Stramm. Literatur, Kunst, Kultur im Expressionismus“ statt, die sich zum ersten Mal eingehend mit dem Wirken von August Stramm befasste und sein Wirken einer allgemeineren, wenn auch noch keiner breiten Öffentlichkeit zugänglich machte.
Geboren wurde Stramm am 28. Juli 1874. Aufgrund der Berufstätigkeit seines Vaters konnte er nicht lange in Münster bleiben. Sein Leben war geprägt von ständigen Umzügen, unter anderem nach Aachen, wo Stramm sein Abitur ablegte. Beruflich zog es ihn nach Berlin, wo er nach seiner Promotion mit dem Titel „Historische, kritische und finanzpolitische Untersuchungen über die Briefpostgebührensätze des Weltpostvereins und ihre Grundlagen“ als Postinspektor tätig wurde. Bereits zuvor heiratete Stramm Else Krafft, die sich unter dem Pseudonym Isolde Leyden erfolgreich als Schriftstellerin betätigte. Auch August Stramm wurde neben seiner Anstellung als Schriftsteller tätig. Er prägte einen radikal neuen Stil im Hinblick auf Grammatik, Orthografie, Zeichensetzung und Wortschatz. Größere Erfolge blieben allerdings aus. 1914 fand Stramm in der Zeitschrift Sturm seine literarische Heimat. Doch die Kritiker standen seinen Veröffentlichungen nicht wohlwollend gegenüber, und so wurde August Stramm und seinem expressionistischen Schaffen erst posthum größere Anerkennung zuteil. Viele seiner Gedichte verfasste Stramm im Krieg. Sie atmen den Geist einer nervösen und ungewissen Zeit. Am 1. September 1915 wurde August Stramm Opfer seines literarischen Bezugspunkts. Er fiel an der Ostfront im Alter von 41 Jahren. Das Foto zeigt sein Grab auf dem Feldfriedhof im belarusischen Horodec. Heute liegt er auf dem Südwestfriedhof Stahnsdorf begraben. Stramm hinterließ unzählige Briefe an seine Frau, einige Bilder, ein Tagebuch und sein literarisches Werk.
August Stramm war vor seinem Tod ein loyaler Beamter im preußischen Staat, teils patriotischer Kompanieführer in der preußischen Armee und ein Schriftsteller, der mit seinem Stil neue Wege ging. Eine Kombination, die auf den ersten Blick wenig stimmig scheint. Doch Stramms Briefe lassen den Leser eintauchen in eine Welt von Optimismus, Fürsorge und Liebe, aber auch in eine Welt voller Angst, Unruhe und Ungewissheit. Was machte der Krieg mit Stramm?
„Wir liegen in der Erde lebendig begraben und atmen und sind froh. Und über uns rollt und tost das Schicksal. So geht das jetzt schon 2 Nächte und 2 Tage, wer weiß wie lange noch.“ – Brief August Stramms an seine Frau Else Krafft vom 04.02.1915 aus dem Schützengraben bei Chaulnes
Im Februar 1915 tobte der Erste Weltkrieg seit etwas mehr als sieben Monaten, und auch Stramm war in seinen Briefen sichtlich vom Krieg gezeichnet. Der im Folgenden nur ausschnittsweise zitierte Brief, ist sicherlich eines der eindrücklichsten Zeugnisse, welches Stramm hinterlassen hat. Geprägt von Ungewissheit, Erschöpfung und der Hoffnung, unversehrt aus der Situation herauszukommen, schrieb Stramm:
„Wir liegen tief eingebuddelt in einem Zuckerrübenfeld wie richtige Rüben. Dürfen unsere Rübe aber nicht über den Rand rausstrecken, sonst haben wir gleich eins auf die Rübe. Das ist eine richtige Rübezahlgeschichte. Wir sehen auch alle aus wie die Kohlrüben, so gelb und lehmig. Wasser zum Trinken gibt’s nicht erst recht nicht zum Waschen. Die Läuse fangen schon an in die Betten zu kriechen […] in der Luft unzählige Mücken […] Die Franzosen knallen Tag und Nacht. Dazwischen das Geheul der schweren Artillerie, wie wilde Tiere. […] Man sieht kaum mehr auf. Es ist manchmal so, als ob der ganze Himmel ein einziges Schluchzen und Weinen und ohnmächtiges Heulen ist.“ – Brief August Stramms an seine Frau Else Krafft vom 04.02.1915 aus dem Schützengraben bei Chaulnes
Stramm beginnt seinen Brief mit einer Metapher, ganz als Schriftsteller. Die Anekdote zeigt, dass er seinen Humor noch nicht verloren hat, aber schon einige Zeilen später schildert er die Strapazen des Krieges. Es ist das Oszillieren zwischen konträren Zuständen, das seine Briefe in sich tragen. So schreibt er an seine Frau:
„Wir müssen siegen […] das ist sicher das Gefühl von uns allen!“ – Brief August Stramms an seine Frau Else Krafft vom 31.12.1914 aus Neuf-Brisach
„Unsere Artillerie sehen wir drüben präzise und genau einschlagen. erschreckend [sic] genau. Da wird mancher Mutter Sohn haben dran glauben müssen.“ – Brief August Stramms an seine Frau Else Krafft vom 04.02.1915 aus dem Schützengraben bei Chaulnes
Der Großteil von Stramms Briefen reflektiert den Kriegsalltag indes kritisch und ist nicht geprägt von kriegsbejahenden Ausbrüchen. Vielmehr bringt er seine Verachtung für den Krieg zum Ausdruck. Zugleich schlug Stramm aber alle Angebote aus, von der Front in sichere Gebiete versetzt zu werden. Über seine Motivation hinter diesen Entscheidungen kann nur spekuliert werden. Vielleicht war er zuversichtlich, dass er auch so lebend zurückkommen würde, vielleicht war es die Kameradschaft im Feld, vielleicht aber waren es auch ganz andere Gründe. Neben seinen Briefen, in denen er den Alltag des Krieges schilderte, war sein zweites Aktivitätsfeld das literarische Schreiben. Es ist bereits angeklungen, worum es in seinen Gedichten ging, die er während des Krieges verfasste. Sein wahrscheinlich bekanntestes Gedicht Patrouille ist ein anschauliches Beispiel nicht nur für das Kriegsgeschehen, sondern auch für den literarischen Stil von Stramm:
Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
gellen
Tod
Es bedarf keiner Analyse, um zu verstehen, was Stramm mit diesem Werk zum Ausdruck bringen will: Ein Soldat auf Patrouille, ins Ungewisse gehend, geplagt von Nervosität, am Ende steht sein Tod. Das Gedicht ist düster. Es zeigt wie Stramm sein Erlebtes in sein literarisches Schaffen einbaut, gleichzeitig wird der Krieg auf seine wahre Natur reduziert, fern von patriotischen Parolen.
Der Gewinn, den die Beschäftigung mit Leben und Werk August Stramms bereithält, liegt vor allem in seinen Briefen. Sein literarisches Schaffen ist einigen Literaturkennern vertraut, aber nur wenige haben sich intensiver mit seinem Nachlass beschäftigt. Er ist vollständig digitalisiert zugänglich.
Die Briefe von Stramm zeugen von zweierlei. Zum einen schildern sie heute in großer Klarheit und Schärfe den Kriegsalltag. Zum anderen zeigen sie dem Leser, wie Stramm eine emotionale Reise durchlebt, die den Ersten Weltkrieg in ein anderes Licht rückt: weg von den Akteuren der Macht, von Propaganda und Parolen hin zu einem ergreifenden Einzelschicksal. Was hätte August Stramm der Nachwelt an literarischem Schaffen noch hinterlassen, wenn er den Krieg überlebt hätte? Darüber lässt sich spekulieren, sicher ist indes, dass das Leben von August Stramm genauso faszinierend ist, wie seine von der Tragik des Krieges geprägten Werke.
Es darf nichts zwischen uns sein, wir müssen eins sein, grade jetzt wo uns die Räume trennen!
Weiterführende Literatur
- Weltpost ins Nichtall. Poeten erinnern an August Stramm, Hiltrud Herbst & Anton G. Leitner (Hrsg.), Münster 2015.
- Wolfgang Delseit, August Stramm. Ein Lesebuch, in: Nylands Kleine Westfälische Bibliothek Bd. 15, Köln 2007.
- Nachlass von August Stramm bei der ULB Münster (vollständig digitalisiert): https://www.ulb.uni-muenster.de/sammlungen/nachlaesse/nachlass-stramm.html