Eingangstor des Ehrenfriedhofs Haus Spital mit kürzlich überarbeiteter Informationstafel
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Von einer Attraktion zum „Russenfriedhof“. Die gesellschaftliche Wahrnehmung des Ehrenfriedhofs Haus Spital vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart
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von Clemens Leonidas

Der ursprünglich 1915 eröffnete Friedhof für das angrenzende Kriegsgefangenenlager liegt auf dem Hof Spital zwischen Gievenbeck und Nienberge und steht mit seiner Geschichte für weitaus mehr, als man auf den ersten Blick erahnen könnte. Während er im Ersten Weltkrieg nur als Kriegsgefangenenfriedhof genutzt worden ist, kann er heute als ein Ebenbild der Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur verstanden werden. Seine Geschichte steht für einen mehrfachen Wandel der Wahrnehmung, den Teile der Gesellschaft vollzogen, und der sich mit der heutigen Bezeichnung „Ehrenfriedhof Haus Spital“ verbindet.

Nicht nur durch das wachsende Bewusstsein für die Schrecken des Zweiten Weltkriegs haben Kriegsdenkmäler in der Geschichte der Bundesrepublik eine besondere Stellung erlangt. Auch der seit Februar 2022 andauernde Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sorgt für eine neue Sensibilität in der Gesellschaft und holt das Grauen eines Krieges in die Gegenwart, wenn auch in einiger geographischer Entfernung. In unserer direkten Umgebung aber sorgen Kriegsdenkmäler und Mahnmale dafür, dass die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät. Diese Orte, die zur Erinnerung an die Vergangenheit einladen, werden oft nur oberflächlich wahrgenommen. Zumeist wird nicht hinterfragt, warum sie existieren, an was oder wen sie erinnern, und warum sie sich genau an diesem Ort befinden. Aber „Erinnerungsorte“ werden nicht als solche geschaffen, sondern müssen von der Gesellschaft erst zu solchen gemacht werden. Ein derartiger Prozess vollzog und vollzieht sich bei der „Ehrenfriedhof Haus Spital“ genannten Kriegsgräberstätte. Dieser Ort, dessen Spur bis heute noch nach Russland, Polen, die ehemalige Sowjetunion und in die Ukraine führt, findet als Ort des Gedenkens immer mehr Beachtung in der Gesellschaft. Dies erfolgt vor allem durch die vermehrte Betrachtung des Ortes durch Heimatforscher und Heimatvereine sowie durch Veranstaltungen, die einen großen Beitrag zur Öffentlichkeitsarbeit des Ehrenfriedhofs leisten.

Der Ehrenfriedhof liegt im Münsteraner Stadtteil Nienberge. Er wurde im Jahr 1915 für das anliegende Kriegsgefangenenlager am Gutshof Haus Spital errichtet, um dessen Verstorbene dort zu begraben. Deshalb befinden sich hier keine Gräber von deutschen Soldaten. Während das Kriegsgefangenenlager noch in Betrieb war, wurden auf dem Friedhof Franzosen, Engländer, Italiener, Russen, Polen, Belgier und ein Inder begraben. Warum aber weist der Friedhof heute nur noch nach Osteuropa? Nach Kriegsende und bis 1923 sind alle dort bestatteten Engländer, Franzosen, Italiener und Belgier in ihre jeweilige Heimat überführt worden. Heute liegen dort noch 816 Gefallene aus dem Ersten Weltkrieg und ungefähr 217 aus dem Zweiten Weltkrieg. Am Eingang des Friedhofs befindet sich ein schmiedeeisernes Eingangstor, welches 1916 vom französischen Bildhauer Broucke entworfen wurde. Über dem Tor befindet sich der Schriftzug „Requiescat in pace“, zu Deutsch „Er bzw. Sie ruhe in Frieden“. Zudem befindet sich am Ende des Friedhofs ein Denkmal zu Ehren der verstorbenen Kriegsgefangenen aus dem Gefangenenlager. Das Denkmal wurde von Auguste Duthiot entworfen und zeigt sowohl das englische Königswappen, den gallischen Hahn, das belgische Königswappen und den Doppeladler des Zarenreichs sowie die Namen aller dort Verstorbenen. Vollendet wurde das Ehrenmal ebenfalls von Broucke. Auf dem Friedhof befinden sich zudem Grabsteine zum Gedenken an die Toten. Diese enthalten oftmals ein religiöses Symbol, entweder das Kreuz – russisch-orthodox oder römisch-katholisch –, den Davidstern oder die Mondsichel. Sofern der Name bekannt war, wurde dieser auf den Grabstein gemeißelt. Alle anderen Grabsteine wurden mit der Aufschrift „unbekannter russischer Soldat“ versehen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Kriegsgefangenenlager Haus Spital geschlossen (siehe den Beitrag von Severin Stegemann). Es wurde fortan als Flüchtlingslager genutzt und fand in der kommenden Zeit die unterschiedlichsten Verwendungen.

Der Friedhof im Ersten Weltkrieg

Fotografie eines Denkmals auf dem Ehrenfriedhof Haus Spital, erbaut 1916
Denkmal auf dem Ehrenfriedhof Haus Spital, erbaut 1916
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Zeitungsartikel aus der Zeit des Ersten Weltkriegs erwecken den Eindruck, dass die Bevölkerung den Friedhof als Musterbeispiel für einen Soldatenfriedhof wahrnahm. Es sei ein stiller und feierlicher Garten für die ehrenvollen und tapferen Gegner. Der Friedhof wurde als Ort des Ruhms und der Erinnerung an die gefallenen Soldaten gesehen. Die Artikel legen nahe, dass der Friedhof als Attraktion angesehen wurde, bei der die Sauberkeit und Sorgsamkeit der Anlage für die Besucher etwas Ergreifendes darstellte. Alle Schranken zwischen Freund und Feind sollten hier fallen. Hier ist noch von dem „Friedhof am Haus Spital“ die Rede, also von einem aktiv genutzten Friedhof neben dem Kriegsgefangenenlager.

Der Friedhof in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Abzug der Inhaftierten aus dem Kriegsgefangenenlager Haus Spital blieb der Friedhof zwar bestehen, jedoch nicht in der Ansehnlichkeit wie während des Krieges. Nachdem 1923 die dort bestatteten Engländer, Franzosen, Italiener und Belgier in ihre Heimat überführt worden waren, blieben nur noch Russen und Polen auf dem Friedhof zurück. Nur wenige Jahre später, 1926, nahmen die Münsteraner die morschen Holzkreuze und das Erscheinungsbild des Friedhofs zunehmend als heruntergekommen wahr. Ab den 1930er-Jahren fanden einmal jährlich Instandsetzungen statt. Während des Zweiten Weltkrieges wurden neue Gräber für französische, italienische, britische und amerikanische Kriegsopfer angelegt, die jedoch nach dem Krieg in ihre Heimat überführt wurden. In der Nachkriegszeit hat man den Friedhof verwahrlosen lassen. Die freiwillige Pflege übernahm von 1945 bis 1949 das Gut Haus Spital.

Der Friedhof in den 1950er- und 1960er-Jahren

In den 1950er-Jahren erhielt der Friedhof wieder eine größere Aufmerksamkeit. Seit 1953 fand jährlich zu Allerheiligen eine Prozession zum Ehrenfriedhof Haus Spital statt. Messdiener der katholischen Pfarrgemeinde Sankt Sebastian in Nienberge zogen zusammen mit Pfarrer Karl Neuendorf am Abend zum Friedhof und gedachten der Inhaftierten des Gefangenenlagers sowie der Opfer des Krieges. Es war der Pfarrer selbst, der diese Tradition initiierte; er war als Soldat an der Ostfront in Russland stationiert gewesen. Im Jahr 1960 bemühte sich das Amt Roxel erfolgreich um eine Instandsetzung des Friedhofs, verschönerte die Gartenanlage, besserte die Umzäunung und insbesondere das Ehrenmal aus. Ab 1965 wurde mit dem Kriegsgräbergesetz endgültig festgelegt, dass alle Kriegsfriedhöfe gepflegt und erhalten werden müssen, sodass auch der Friedhof zwischen Nienberge und Gievenbeck nicht länger in wuchernden Sträuchern versinken durfte. Seit 1975 trägt die Stadt Münster die Fürsorge für den Ehrenfriedhof. Seitdem erlangte er mehr Aufmerksamkeit innerhalb der Gesellschaft, jedoch gab es bisweilen Ratlosigkeit, wofür er stand und was historisch mit ihm verbunden werden sollte. So wurde er 1958 noch als „Russenfriedhof“ und vier Jahre später als „Franzosenfriedhof“ betitelt; der Name ging dabei wahrscheinlich auf die französisch anmutende Ausgestaltung des Friedhofs zurück.

Der Friedhof in den 1980er- und 1990er-Jahren

Fotografie einer Gedenktafel auf dem Ehrenfriedhof Haus Spital
Gedenktafel auf dem Ehrenfriedhof Haus Spital
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Zu Beginn der 1980erJahre erhielt der Ort neue Brisanz: Man vermutete, auf dem Grundstück des Friedhofs am ehemaligen Kriegsgefangenenlager Haus Spital habe sich ein von Nationalsozialisten angelegtes Massengrab für Sowjetbürger aus dem Zweiten Weltkrieg befunden. Es sollten 217 sowjetische Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter heimlich dort beerdigt worden sein. Marcus Weidner war während seiner Recherche für ein Schulprojekt auf derartige Hinweise gestoßen. Nach langer Recherche legte er 1985 Beweise für die Existenz eines geheimen Massengrabs für Sowjetbürger ohne Grabsteine vor: Das sollte aus einer Notiz der Akten des städtischen Gartenamtes hervorgehen. Zudem hätten ihm Münsteraner erzählt, dass auf dem Ehrenfriedhof auch Russen aus dem Zweiten Weltkrieg begraben worden seien. Spätestens dadurch etablierte sich im Volksmund der Name „Russenfriedhof“. Lange jedoch erkannten die Stadt Münster und der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ (VDK) die 217 sowjetischen Toten entgegen der Meinung von Experten nicht als Kriegstote an, weil die Kommune diese Gräber in Listen hätte nachweisen müssen, die sie aber nicht besaß. Stattdessen wurde 1997 eine Gedenktafel eingeweiht, auf der lediglich die 816 Kriegstoten aus dem Ersten Weltkrieg berücksichtigt wurden. Das änderte sich erst, als der Münsteraner Student Ralf Fritzer im Jahr 1999 durch die Einsicht von Sterbefallnachweisen die Bestätigung für die Beisetzung von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern auf dem Friedhof Haus Spital fand. Namentlich konnte er zwei Sowjetbürger identifizieren, die während des Zweiten Weltkriegs auf dem Friedhof begraben worden waren. Erst nach der offiziellen Bestätigung im Oktober 1999 wurde eine neue Gedenktafel aufgestellt, die auch an die 217 sowjetischen Kriegstoten aus dem Zweiten Weltkrieg erinnerte.

Der Friedhof in den 2000er-Jahren bis in die Gegenwart

Der „Russenfriedhof“ stieß in den 2000er-Jahren auf wachsendes Interesse in der Gesellschaft. Im Jahr 2000 wurde er saniert; zudem gab es Bemühungen, die 217 neu entdeckten sowjetischen Kriegstoten aus dem Zweiten Weltkrieg zu identifizieren. Der Historiker Ulrich Ehrhardt machte es sich ab 2003 zur Aufgabe, den anonym bestatteten Menschen ihren Namen zurückzugeben – und nahm dabei auch die Gesellschaft in die Verantwortung: Es sei ihre Pflicht, die Toten bei ihren Namen zu nennen, um sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. In der Folgezeit fanden mehrere Veranstaltungen auf dem Ehrenfriedhof Haus Spital statt. Dazu gehörte die Lesung des Heimatvereins Nienberge unter dem Motto „Frieden und Versöhnung über den Gräbern“, der trotz herbstlichen Wetters viele Besucher beiwohnten, um innezuhalten und der Toten zu gedenken. Ähnlich verlief es bei einer Ausstellung des Kooperationsprojektes „Expedition Münster“ im Jahr 2014. Diese von Studenten der Fachhochschule und Universität Münster ausgearbeitete Ausstellung brachte einen unerwartet großen Andrang mit sich. Die Ausstellung unter dem Namen „Ich sehe was, was du nicht siehst“ sollte das Unsichtbare und Vergangene sichtbar machen. Die Studenten versuchten das Kriegsgefangenenlager mithilfe von Fotos, Berichten und Archivalien auf dem originalen Schauplatz für die Bevölkerung nachzubilden. Sowohl die Tatsache, dass die Ausstellung von jungen Menschen konzipiert wurde, als auch das große Interesse zeugte von einer gestiegenen Sensibilisierung der Gesellschaft für die Bedeutung des Ortes – und für die Aufgabe, die Erinnerung an die Verbrechen des Dritten Reiches wachzuhalten. Gleichwohl kam es im Jahr 2015 zu einer Friedhofsschändung: Etwa 450 bronzene Grabsteintafeln wurden gewaltsam von ihrem Stein entfernt. Es ist davon auszugehen, dass dabei für die Schänder mehr der Materialwert der Grabsteintafeln im Vordergrund stand, als das Anliegen, den Friedhof zu beschädigen. Die Namensschilder auf den Grabsteinen wurden ein Jahr später erneuert.

Fotografie zweier Grabsteine mit neuen Namensschildern (links: unbekannter russischer Soldat; rechts: Izot Prianikow) auf dem Ehrenfriedhof Haus Spital
Grabsteine mit neuen Namensschildern (links: unbekannter russischer Soldat; rechts: Izot Prianikow) auf dem Ehrenfriedhof Haus Spital
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Der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine hat dem Soldatenfriedhof eine neue Möglichkeit des Gedenkens verschafft: Zum ersten Jahrestag des Überfalls Russlands auf die Ukraine legten Russen und Russlandfreunde auf dem Friedhof Kränze und Gedenktexte nieder. Mit dieser Geste erinnerten sie nicht nur der im Angriffskrieg gegen die Ukraine gefallenen russischen Soldaten. Sie stellten die Gefallenen auch explizit in eine Tradition der Opferbereitschaft sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkriegs, deren Kampf gegen „den Faschismus“ heute seine Fortsetzung in der Ukraine fände.

In der heutigen Wahrnehmung ist der Ehrenfriedhof Haus Spital mithin weit mehr als ein einfacher Friedhof. Die heute gut besuchten Veranstaltungen von Gruppen, die Erinnerungsarbeit leisten, zeugen von einer gewachsenen Bereitschaft der Gesellschaft, das Gedenken an die Toten aus dem Ersten Weltkrieg sowie an getötete oder verstorbene Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter wachzuhalten. Zugleich aber wird der Ort auch zum Gedenken an die Opfer der russischen Armee in ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine missbraucht.

Weiterführende Literatur

  • Kissenkötter, Britta/Nieland, Wiebke/Eggert, Hanna: Denkmäler im Krieg. Denkmäler des Ersten Weltkriegs auf Haus Spital bei Münster, Münster 1993.
  • Stadtarchiv Münster, Bestände Zaus 80; Dok-Kutsch BU 4-0336.