Luthers Lehre
Was war das Neue an Luthers Lehre im Gegensatz zum alten Glauben? Luther, aber auch andere Reformatoren, legten ihren Überlegungen die Bibel zugrunde. Aus der Heiligen Schrift lasen sie eine gänzlich andere göttliche Heilszusage. Für Luther und alle damaligen Zeitgenossen war der Mensch gegenüber seinen Mitmenschen und gegenüber Gott voller Schuld, weil er – verführt durch den Teufel – Böses tat. Für diese Taten war der Mensch nach der damaligen Vorstellung voll verantwortlich, weil er Schlechtes beging, obwohl er an die Gebote Gottes gebunden war. Der Bruch der Gebote führte aber zum Zorn Gottes und nach dem Tode zur Höllenstrafe für die Seele und zum Verlust der ewigen Seligkeit. Aus diesem Dilemma gab es nur einen Ausweg: Der Mensch bedurfte der Erlösung von seiner Schuld. Der Weg zur Erlösung war der Glaube an den Gottessohn Jesus Christus, der die Schuld der Welt auf sich genommen hatte und für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben war. Diese Erlösung durch Christi Leiden und Tod beanspruchte die mittelalterliche Kirche für sich und leitete aus dieser die alleinige Befugnis auf Sündenerlass und Gnadengewährung ab. Sakramente, Segnungen, Bußleistungen, Ablass, Fürbitten bei den Heiligen – all diese „Dienstleistungen“ der mittelalterlichen Kirche sollten helfen können, die Sündenschuld zu verringern. Daraus ließ sich eine Werkfrömmigkeit ableiten. Durch das Verrichten frommer Werke und guter Taten konnte die eigene Sündenschuld und die der bereits Verstorbenen, die man vor ihrem Eingang ins Paradies im Fegefeuer glaubte, verringert werden. Einige dieser frommen Werke wurden auch durch Stiftungen und Spenden, also Geldzahlungen und Abgabenleistungen erreicht. Vor allem in der finanziellen Sündentilgung sahen die Reformatoren die Auswüchse dieser Werkfrömmigkeit. Luther nun propagierte die Gerechtigkeit und Gnade Gottes (iustitia dei). Gott vergebe dem Menschen trotz seiner Sündhaftigkeit, weil Jesus Christus für alle Menschen am Kreuz gestorben sei und die Schuld auf sich genommen habe. Fromme Werke waren nach Luthers Meinung also unnötig.
Reformationsverläufe
Luthers Auslegung der christlichen Heilslehre und die Kritik an der Sündenerlasspraxis der alten Kirche beinhaltete enormen religiösen und gesellschaftlichen Zündstoff. Eine Umsetzung seiner Forderungen von heute auf morgen war somit kaum möglich. Auch konnte Luther natürlich diesen Umwälzungsprozess nicht allein ins Werk setzen. Es galt, die Gläubigen zu begeistern und zu überzeugen. Dazu bedurften seine Ideen der Verbreitung durch Multiplikatoren. Erst dadurch gewann seine Lehre immer mehr Anhänger. Diese legten allerdings seine Lehre auch durchaus unterschiedlich aus. So nimmt es nicht wunder, dass es aufgrund dieser Voraussetzungen nicht zu der „einen“ Reformation kam, sondern es viele verschiedene Ausprägungen und Verläufe gab. Daher lässt sich zum Beispiel ein Typ „städtische Reformation“ von der Reformation auf dem Lande durch Pfarrer und Gemeinden sowie von der durch den Landesherrn geförderten Reformation unterscheiden. Reformationsbestrebungen konnten erfolgreich sein, aber auch scheitern, sodass einige Territorien und Städte zum alten Glauben zurückkehrten. Andere Gebiete waren gleich katholisch geblieben. Eine Besonderheit für Westfalen und den Niederrhein ist auch die „via media“ bzw. „humanistische Reform“, die zwischen den Bekenntnissen vermittelte und die vor allem im personell verbundenen Territorienkomplex Jülich-Kleve-Berg-Mark-Ravensberg als Sonderform der reformatorischen Bewegung anzutreffen ist. Ebenfalls ist die Täuferbewegung, die vor allem in der Stadt Münster Fuß fassen konnte und eine Alternative zur lutherischen Lehre darstellte, in diesem Zusammenhang zu nennen – auch wenn diese Glaubensrichtung bereits ab 1535 gewaltsam unterdrückt wurde.
An dieser Stelle muss auch erwähnt werden, dass die Reformation nicht der erste Versuch war, die alte Kirche zu erneuern, sondern es schon zuvor viele Reformbewegungen gegeben hat, von denen z.B. die spätmittelalterliche Erneuerungsbewegung der Devotio moderna zu nennen ist, deren Denkansätze auch in der späteren Reformation Eingang fanden.
Schwierige Suche
Die unterschiedlichen Reformationsverläufe und -ausprägungen machen es schwierig, die Anfänge zu bestimmen. Welche Maßnahmen können als Zeichen einer reformatorischen Bewegung angesehen werden? Waren etwa die Massenproteste, die in vielen westfälischen Städten zwischen 1523 und 1528 erfolgten – so in Dortmund, Paderborn, Münster, Osnabrück, Warburg, Minden, Herford und Soest – und vor allem soziale und wirtschaftliche Motive hatten, bereits ein Zeichen reformatorischer Aktivität, oder waren sie doch eher eine Protestform alten Typs, die es in Gestalt von Unruhen und „Papenkriegen“ auch schon im Spätmittelalter gegeben hatte? Ihr Verlauf folgte zumindest mit Auflauf vor dem Rathaus, Solidarisierung der Handwerker, Beschwerdeliste, Rückgriff auf das Stadtrecht, Bildung eines Ausschusses und Verhandlungen mit dem Rat dem alten Muster. Oder kann man etwa bereits einen privaten Schriftwechsel zwischen dem Osnabrücker Augustinereremiten Gerhard Hecker und seinem Ordensbruder Martin Luther 1521 als frühes Zeugnis der Reformation in Osnabrück und Hecker als ersten Reformator der Stadt werten? Die Antworten der Experten fallen hier natürlich unterschiedlich aus, je nachdem, welcher Wert dem jeweiligen Ereignis zugebilligt wird. Doch offenbar geht es nicht nur den Historikern heutzutage so, dass sie bei der Bestimmung Schwierigkeiten haben, ob man ein Ereignis oder einen Befund im Hinblick auf die reformatorischen Anfänge bewerten kann. Aus den relativ wenigen Quellen, aus denen sich Informationen über das Reformationsgeschehen gewinnen lassen, wird deutlich, dass anscheinend auch der jeweilige Zeitgenosse anfangs nicht genau wusste, welchem Bekenntnis er sich selbst zurechnete. Diese Erkenntnis lässt sich aus Visitationsberichten und Selbstzeugnissen ziehen, in denen etwa Pfarrer behaupten, den Gottesdienst nach dem Ritus eines speziellen Bekenntnisses zu feiern, aber in einer Art und Weise, die wir heute der anderen Konfession zurechnen würden. Dieses Problem löst sich auf, wenn man bedenkt, dass auch die neuen evangelischen Bekenntnisse, die wir heute genau zu unterscheiden wissen, nicht von Anfang an gesetzt wurden, sondern sich erst entwickeln und ausformen mussten. Bei diesem Vorgang kam es natürlich auch zu Mischformen, Kompromisslösungen und unklaren konfessionellen Zugehörigkeiten. Hinzu kommt, dass es zu Beginn der Reformation nicht nur die lutherische Lehre gab, sondern auch andere reformatorische Strömungen, z.B. das auf Ulrich Zwingli und Johannes Calvin zurückgehende reformierte Bekenntnis, das allerdings Westfalen erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts erreichte, oder die Täuferbewegung, die in Westfalen anscheinend zunächst die Nische besetzte, die die Calvinisten in anderen Teilen des Reiches parallel zu Luthers Lehre einnahmen.
Merkmale der Reformation
Um beurteilen zu können, ab wann man von Reformation oder von reformatorischer Bewegung sprechen kann, haben die Historiker drei Kriterien entwickelt, mit denen man sich dem Phänomen nähern kann. Zum einen muss ein Bezug zum lutherischen Bekenntnis, also eine Berufung auf die Lehre Luthers bzw. das Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) vorhanden, zum anderen muss eine Veränderung des Gottesdienstes erkennbar sein (Deutsche Messe, Gesänge, Herausstellung der Predigt). Zum Dritten lässt sich Reformation an der Neuorganisation des alten oder der Einführung eines neuen Kirchenwesens festmachen. Dieses letzte Merkmal ist auch wesentlich für die Frage, wann der Reformationsprozess zu einem gewissen Abschluss bzw. einer Etablierung vorangeschritten ist. Dieser Zeitpunkt ist erreicht, wenn eine Kirchenordnung erlassen worden ist, die Glaubensaussagen, agendarische und organisatorische Regelungen umfasste und mit der zumeist ein neues Kirchenwesen geschaffen wurde.
Erfolgsgeschichte Reformation?
Wir sind heute geneigt, Reformationsverläufe als „Erfolgsgeschichten“ anzusehen und zu schreiben. Doch zeigen vor allem die gescheiterten Reformationsversuche, dass zu Beginn eines jeden einzelnen Reformationsprozesses noch nicht abzusehen war, ob sich das neue Bekenntnis überhaupt durchsetzen und wohin die Reise eigentlich gehen würde. Diese Perspektive sollte man vor allem nicht außer Acht lassen, wenn man versucht, die Motive der Reformatoren und der der Reformation zuneigenden Landes- und Stadtherren zu erklären. Denn zu Anfang der reformatorischen Bewegung konnte noch niemand wissen, dass 1555 im Augsburger Religionsfrieden den Anhängern der Confessio Augustana dauerhaft ihre freie Religionsausübung zugestanden wurde. Zuvor hätte man auch durchaus damit rechnen können, als „Ketzer“ gebrandmarkt und hingerichtet zu werden oder als Landesherr Repressalien erleiden zu müssen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts für ein neues Bekenntnis einzustehen und sich gegen die alte Kirche zu wenden, war also ein mutiger und ungewisser Schritt. Deshalb greifen auch Erklärungen, die nur auf ökonomische und soziale Beweggründe abheben und wie sie oftmals in den populären Medien vertreten werden, zu kurz. Es müssen den Menschen im Zeitalter der Reformation auch starke religiöse Motive zugesprochen werden.
Heile katholische Welt um 1520?
Während Luther in Wittenberg bereits herbe Kritik an der mittelalterlichen Kirche übte, scheint in Westfalen noch eine im Großen und Ganzen „heile katholische Welt“ (Werner Freitag) vorgeherrscht zu haben. Zwar wurden auch in Westfalen bestimmte klerikale „Auswüchse“ missbilligt und dem Unmut darüber auch Luft gemacht (z.B. im Osnabrücker Lenethun-Aufstand 1488), doch ging es hier vielmehr um wirtschaftliche Interessen (Streit um die Nutzungsrechte in der städtischen Feldmark) oder hatte soziale Status-Gründe, weil die Konkubinen der Geistlichen den gleichen Rang wie die Bürgerfrauen beanspruchten, der sich auch in gleicher Kleidung ausdrückte. Die vonseiten der Institution Kirche eingeforderten Praktiken mittelalterlicher Frömmigkeit wurden anscheinend – so lassen es zumindest die Quellen erkennen – nicht wirklich hinterfragt.
Der spätmittelalterliche Bauboom, der sich vor allem an umfangreichen Neu- und Anbauten an Kirchengebäuden ablesen lässt, hielt in Westfalen bis in die 1520er Jahre an. So brechen etwa in Lippe größere Sakralbauprojekte erst 1524 ab und setzen dann 1547 wieder ein. Neben Großprojekten finden sich aber auch viele kleinere Bau- und Ausstattungsmaßnahmen wie der Bau von Sakramentshäuschen oder die Anschaffung neuer Altäre und Glocken. Diese Bau- und Ausstattungstätigkeit wurde vornehmlich durch finanzielle Zuwendungen aus frommen Stiftungen (Memorienstiftungen, Altarstiftungen, Seelgerätstiftungen, Messstiftungen, Ewiges-Licht-Stiftungen) finanziert und zeigt, dass an der Institution Kirche und ihrer Heilszusage im Allgemeinen nicht gezweifelt wurde. Bauliche Erweiterungen und Umgestaltungen sowie Altäre und Sakramentshäuschen dienten der Messfeier, die somit immer noch als zentral angesehen wurde. Nach katholischer Lehre wurde im Gottesdienst in der sog. Opfermesse bzw. im Opferungsteil (Gabenbereitung, Kanon mit Wandlung) am Altar das Kreuzesopfer Jesu durch einen geweihten Priester nachvollzogen. Mit dieser Opfermesse konnten so auch fromme Bitten für Lebende und Verstorbene verbunden werden. Genau deshalb stand der Altar im Mittelpunkt der frommen Praxis und des baulichen Interesses. Die Predigt hingegen, die für die Protestanten einen so wichtigen Stellenwert einnehmen sollte, war nicht unbedingt mit der Messe verbunden und auch kein Teil der Sonntagspflicht der Gläubigen.
Die Errichtung von Sakramentshäuschen ist zudem als Reflex der Akzeptanz der katholischen Transsubstantiationslehre anzusehen. Für die Gläubigen war aufgrund der vom Priester vollzogenen Wandlung Christus in Gestalt von Brot und Wein materiell gegenwärtig, und zwar über den Moment der Konsekration und des Empfangs hinaus. Christus konnte somit unter der Gestalt des Brotes angebetet werden. Diese Vorstellung, die später von Luther abgelehnt wurde, ist bis heute der wichtigste Unterschied zwischen den Konfessionen.
Die konsekrierte Hostie war aber auch ein wichtiges Element der Fronleichnamsprozessionen, in deren Gestalt Christus durch Stadt und Flur getragen wurde. Diese Prozessionen, bei denen auch die Bilder der lokal bedeutsamen Heiligen mitgeführt wurden, lassen sich ebenfalls lange in Westfalen feststellen wie auch die regionalen Wallfahrten. Beides, Prozession und Wallfahrt, sind Zeichen der Akzeptanz mittelalterlicher Frömmigkeitsformen, vor allem der Heiligenverehrung. Heilige dienten nicht nur als Vorbild, sondern auch als Fürsprecher der Anliegen des Gläubigen bei Gott.
Politische Vorraussetzungen
1517 – dieses Jahr als den Beginn der Reformation festzulegen, greift für Westfalen nicht. Hier hielten reformatorische Einflüsse erst später – vereinzelt in den 1520er und verstärkt in den 1530er Jahren – Einzug. Warum das so war, liegt vor allem auch in den besonderen westfälischen Verhältnissen begründet.
Während in der unmittelbar südöstlich angrenzenden Landgrafschaft Hessen die Reformation bereits vor 1530 als weitestgehend abgeschlossen angesehen werden kann, lassen sich für Westfalen in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts noch recht wenige Ansätze erkennen. Das lag daran, dass die damalige Landschaft Westfalen im Gegensatz zu Hessen kein einheitlicher politischer Raum war (ein solcher entstand erstmals mit der Gründung der preußischen Provinz im Jahr 1815), sondern ein „Flickenteppich“, der aus zahlreichen kleineren und mittleren Territorien sowie vielen Städten bestand, ohne ein Herrschaftszentrum zu besitzen. Die Landschaft Westfalen im Reformationszeitalter war größer als der heutige Landesteil von Nordrhein-Westfalen. Vor allem Gebiete des heutigen Bundeslandes Niedersachsen wurden von den Zeitgenossen zu Westfalen gerechnet. Der angesprochene Flickenteppich bestand hauptsächlich aus geistlichen Territorien, in denen der weltliche Fürst gleichzeitig auch geistlicher Herr, also Bischof war. Dabei handelte es sich um die vier Fürstbistümer Minden, Münster (mit dem heute zu Niedersachsen gehörenden Niederstift), Osnabrück (heute ebenfalls Niedersachsen) und Paderborn sowie um das vom Kölner Erzbischof regierte Herzogtum Westfalen und das Vest Recklinghausen. Zu den geistlichen Gebieten ist auch die Reichsabtei Corvey zu rechnen. Hier bestimmte der Abt über ein kleines Gebiet einschließlich der Stadt Höxter. Zwischen diesen geistlichen Gebietskomplexen etablierten sich seit dem Hochmittelalter größere und kleinere weltliche Territorien, die von einem Landesherrn in Kooperation mit den Landständen, also dem einheimischen Adel und gegebenenfalls den Vertretern der Landstädte, regiert wurden. Aufzulisten sind hier die Herzöge von Jülich-Kleve-Berg, die von Düsseldorf aus die westfälischen Grafschaften Mark und Ravensberg regierten, die Graf- und Herrschaften Bentheim (heute Niedersachsen), Lippe, Lingen (teilweise heute zu Niedersachsen), Rheda, Rietberg, Steinfurt, Tecklenburg sowie das heute zu Hessen gehörende Waldeck. Die siegerländischen Grafschaften Nassau-Dillenburg und Wittgenstein, deren Gebiet heute zu Westfalen gehören, hätte man im 16. Jahrhundert allerdings wohl eher nicht zu Westfalen gerechnet, da sie mehr hessisch orientiert waren.
Eine einheitliche Reformation war in Westfalen also allein schon wegen der zersplitterten Herrschaftsstruktur nicht möglich. Die unterschiedlichen Gebiete haben jeweils auch einen ganz eigenen Reformationsverlauf. Durch die jeweiligen familiären, politischen und nachbarschaftlichen Verbindungen wurden die Landesherren und mit ihnen ihre Herrschaftsbereiche auch in unterschiedlicher Art und Weise hinsichtlich reformatorischer Gedanken und Ideen beeinflusst. Maßgeblichen Einfluss auf die Landschaft Westfalen nahmen die Fürstenfamilie der Welfen im Nordosten der Region (Hochstift Minden) sowie die hessischen Landgrafen im Süden und Südwesten, aber auch in seiner damaligen Mitte (Tecklenburg-Rheda). Zudem ist der Einfluss des Erzbischofs von Köln auf die westfälischen Länder nicht zu unterschätzen, und zwar sowohl als Förderer als auch als Gegner. Auch der Hansebund, durch den viele westfälische Städte mit anderen norddeutschen urbanen Zentren verbunden waren, muss als Vermittler reformatorischer Ideen genannt werden.
Anzeichen der Reformation
Woran ist nun aber die Reformation zu erkennen? Was charakterisiert das Ende der Einheit der west- und mitteleuropäischen Christenheit? Religionsgeschichtlich betrachtet sind sicherlich die Befreiung von der Vorstellung des Fegefeuers und die Abkehr von der Lehre der guten Werke wesentliche Merkmale der Reformation. Durch sie veränderte sich die mittelalterliche Memorialkultur grundlegend. Sämtliche Stiftungen für die Seelen der Verstorbenen und fürbittendes Gebet wurden überflüssig. Das hatte vor allem Einfluss auf den kirchlichen Bauboom des Spätmittelalters, der mit dem Wegfall der frommen Einnahmen zum Erliegen kam. Aber auch die Heiligen als Vermittler und Fürsprecher bei Gott und den himmlischen Mächten verloren ihren einstigen Stellenwert – und damit natürlich auch ihre Abbilder in Form von Darstellungen und Statuen. Zusätzlich zum Verschwinden der Heiligenbildnisse würde der Kunsthistoriker auch das reformatorische Bildprogramm als Veränderung benennen, das dem Grundsatz von Gesetz und Gnade verpflichtet war. Da die Reformation vielfach auch mit herrschaftlichen Interessen verknüpft war, kann das neue evangelische Kirchenwesen auch als ein wichtiger Schritt im Prozess der neuzeitlichen Staatsbildung betrachtet werden. Die Reformation wird außerdem mit den Begriffen „Bildungs- oder Kommunikationsrevolution“ beschrieben, weil Luther den Schulausbau propagierte und ohne den Buchdruck seine Bibelübersetzung und sein Katechismus keine derartige Verbreitung gefunden hätten. Luthers Schriften förderten zudem eine Vereinheitlichung der Sprachenvielfalt im deutschsprachigen Raum. Da der Mensch allein von Gottes Gnade und Gerechtigkeit abhängig war, brachte ihm auch keine Abgeschiedenheit oder Askese eine größere Nähe, weshalb aus dieser Sichtweise auch klösterliche Gemeinschaften keine eigentliche Funktion mehr erfüllten.
Reformation mit Verspätung
Die verzögerte Aufnahme reformatorischer Ideen ist sicherlich auch der westfälischen Städtelandschaft geschuldet, denn „Reformation“ in ihrer Frühphase war vor allem ein urbanes Phänomen. In Westfalen gab es vornehmlich Kathedralstädte, die zugleich Bischofssitze waren, also Residenzstädte des jeweiligen Stadtherrn, und einem Territorium zu- und untergeordnete Landstädte. Auf westfälischem Gebiet existierte mit Dortmund nur eine einzige Reichsstadt, die lediglich dem König unterstand. Die Städte Essen und Herford mit den dort ansässigen Reichsstiften und die corveysche Stadt Höxter hatten sich in religiösen Fragen mit den Äbtissinnen und dem Abt auseinanderzusetzen.
Auf dem Land hatte maßgeblich der Landesherr oder der ortsansässige Adel das Sagen. Auch Klöster und Stifte, sofern sie das Patronat über eine Pfarrei besaßen, waren ein wesentlicher Faktor im lokalen Reformationsprozess.
Ein weiterer hemmender Faktor bei der Durchsetzung der Reformation, der vor allem die Vermittlung der lutherischen Lehre an die Gläubigen betraf, mag auch die Sprachbarriere zwischen den niederdeutschen und mitteldeutschen Mundarten gewesen sein. Die Grenze verlief entlang der „Benrather Linie“, also am Südrand des damaligen Westfalens. Wittenberg lag im mitteldeutschen Bereich südlich dieser Isoglosse. Die reformatorischen Schriften mussten also zum Teil erst übersetzt und den niederdeutschen Predigern für ihre Sprache aufbereitetes Material an die Hand gegeben werden. In dieser Hinsicht ist vor allem der Lippstädter Augustinereremit Johannes Westermann zu nennen, der etwa Luthers Prozessionsbüchlein und Taufbüchlein ins Niederdeutsche übertrug.
Hemmend für reformatorische Ideen wirkte sich zudem aus, dass es in Westfalen im Zeitalter der Reformation keine Universitäten gab – die erste Hochschule Westfalens wurde erst im frühen 17. Jahrhundert im tridentinisch-katholischen Paderborn gegründet.
Dass reformatorische Vorgänge im Reich allerdings auch in Westfalen rezipiert wurden und dass sich die reformationswilligen Menschen in Westfalen durchaus ihres Rückstandes in dieser Hinsicht bewusst waren, zeigt der sogenannte Bundbrief der Soester Reformatoren vom Dezember 1531. Dort wird vermerkt, man wolle nun endlich auch „godess wordt“ in den Stadtkirchen auf die Art und Weise gepredigt haben, wie es bereits in Nürnberg, Straßburg, Augsburg, Wittenberg, Magdeburg, Braunschweig, Stralsund, Rostock, Lübeck, Hamburg, Stade, Bremen und ganz Livland verkündet werde.
Obwohl Luther oder andere berühmte Reformatoren niemals in Westfalen predigten, gab es doch Verbindungen zum Zentrum der reformatorischen Bewegung in Mitteldeutschland. Vor allem die Augustinereremiten in Osnabrück, Herford und Lippstadt schickten ihre Mitbrüder zum Studium nach Wittenberg. Zudem standen sie in Briefkontakt mit Luther und Melanchthon und holten bei ihnen Rat und Hilfe ein. Beispielsweise approbierte Luther zusammen mit Johannes Bugenhagen, Justus Jonas und Philipp Melanchthon die Kirchenordnung der Grafschaft Lippe 1539.
Gründe — Schwäche der Bischofskirche
Das Ablasswesen, also die Ablösung der Sündenstrafen durch fromme Werke, zu denen auch fromme Stiftungen gehörten, und seine Auswüchse werden oftmals als Hauptgrund für die Reformation genannt. Doch trifft genau dieser Missbrauch mittelalterlicher Frömmigkeitspraxis als Auslöser der Reformation in Westfalen nicht zu, denn hier gab es kaum größere Ablässe zu erwerben.
Vielmehr waren die Wegbereiter der Reformation nach Westfalen zum einen die institutionelle Schwäche der Bischofskirche, die es dem Bischof schwer machte, gegen reformationswillige Pfarrer vorzugehen. Das lag vor allem daran, dass in Westfalen der Bischof den Großteil der Pfarrstellen nicht besetzen durfte. Dieses Recht beanspruchten andere geistliche Institutionen wie das Domkapitel, die Klöster und Stifte oder aber die landsässigen Adeligen, wenn die Pfarreien ihre „Eigenkirchen“ waren. Zudem war die geistliche Lehrgewalt des Bischofs in Westfalen schwach ausgeprägt, denn es gab – außer 1533 in Osnabrück – keine Reformsynoden. Und auch Sanktionen konnte der Bischof nicht verhängen, lag die Ausübung des geistlichen Gerichts doch vornehmlich auf mittlerer Ebene bei den Archidiakonen, die Mitglieder der Domkapitel, also sogenannte Domherren, waren, die ja vielfach in Konkurrenz zum eigenen Bischof standen. Als Wahlgremium legte das Domkapitel bei der Neuwahl eines Bischofs sogenannte Wahlkapitulationen fest, in denen die Privilegien der Domherren festgeschrieben wurden. Nur wenn der Kandidat diese akzeptierte, wurde er zum Bischof gewählt. So kam es, dass das Bischofsamt vornehmlich wegen seiner weltlichen Macht interessant war und die religiösen Belange von den Bischöfen, die mehrere Bischofsstühle besetzen konnten, recht stiefmütterlich behandelt wurden. In den westfälischen Bistümern war es also das Domkapitel, das in Glaubensdingen den Ton angab.
Gründe — Qualität der Pfarrseelsorge
Neben den Privilegien der Kirche (Steuerfreiheit, eigene Gerichtsbarkeit, Gewerbetätigkeit der Kleriker), bot die vielerorts schlechte Pfarrseelsorge, die vor allem im Stellvertreterwesen begründet lag, vermehrt Anlass zur Kritik am Klerus. Das Innehaben einer Pfarre bedeutete für den Inhaber, Einkünfte (Pfründen) zu erhalten. Aus diesem Grund wurde es vielfach gängige Praxis, dass Kleriker mehrere Pfarrstellen zu erhalten trachteten. Da mit dem Besitz einer Pfarrstelle natürlich auch seelsorgerische Pflichten verbunden waren, z.B. das Abhalten des Gottesdienstes, entsandte der eigentliche Pfarrstelleninhaber (verus Pastor) einen mehr oder weniger fähigen Stellvertreter (mercenarius; in der Volkssprache auch Hürpape "Mietpfaffe" genannt), der die Verwaltung der Pfarrstelle übernahm. Dieses sogenannte „Stellvertreterwesen“ führte aber zu einer Verschlechterung der Pfarrseelsorge, die von den Gläubigen wahrgenommen und kritisiert wurde. Denn an den Pfarrer wurden gewisse Anforderungen gestellt: Er sollte ein reines Leben führen, kein „Trinker“ sein, die Beichte abnehmen und musste lesen, singen und predigen können. Vor allem der Missbrauch des Stellvertreterwesens förderte einen unterschwelligen Antiklerikalismus.
Hingegen nahmen die Gläubigen an Verstößen gegen den Zölibat anscheinend keinen Anstoß. Die Gläubigen akzeptierten das Zusammensein von Klerikern mit einer Partnerin und auch deren Kinder, solange die Seelsorge unter den familiären Verpflichtungen des Pfarrers nicht litt. Auch von kirchlicher Seite wurden Zölibatsvergehen kaum oder nur mit geringen Bußen geahndet. Viele Söhne folgten den Vätern mit päpstlicher oder bischöflicher Befreiung im Amt, weil ihnen aufgrund ihrer unehelichen Geburt bürgerliche Berufe verwehrt blieben.
Gründe — Aufwertung der Laien und Schriftbezug
Doch machten natürlich nicht nur Kritikpunkte an der alten Kirche die Reformation attraktiv, sondern auch das Neue der lutherischen Lehre. Der Erfolg der Reformation ist auch in der Aufwertung der Laien zu sehen, die sich in drei Bereichen zeigte. Zum einen dachten die Reformatoren von der Gemeinde her (Gemeindetheologie). Vor allem der Gemeindegottesdienst wurde propagiert, den der Gläubige nicht mehr nur recht passiv wahrnahm (Augenkommunion), sondern aktiv mitgestaltete. Der Gläubige wirkte durch volkssprachliches Gebet und (nieder-)deutschen Gesang am heiligen Tun mit. Die reformatorische Betonung der Gemeinde machte diese Idee dann vor allem in den Städten populär, deren Bürger sich als „Sakralgemeinschaft“ verstanden.
Auch durch die Kommunion unter beiderlei Gestalt wurde der Laie stärker einbezogen. Dass der katholische Priester Leib und Blut Christi unter der Gestalt von Brot und Wein genoss, seine Gemeinde aber nur den Leib, wurde nicht nur von den Reformatoren, sondern auch von den Laien als Minderung des Heils angesehen. Die Forderung nach dem ungeteilten Empfang des Abendmahls war also äußerst verbreitet. Deshalb wurde bei der Einführung der Reformation die Kommunion auch demonstrativ auf diese neue Weise gespendet.
Überlegenheit und Wahrheit der neuen Lehre wurden auch dadurch begründet, dass die Reformatoren ihre Aussagen und Argumente auf die Bibel gründeten. Dieser Bezug auf das Wort Gottes übte auf die Gläubigen eine besondere Faszination aus, versprach größeres Heil. Das „Evangelium von der sündenvergebenden Gnade“ (Ernst Troeltsch) trat in ernsthafte Konkurrenz zu katholischer Messe und Werkfrömmigkeit als Wege zur Verheißung Gottes. Der Devise von Gottes Wort, das in Ewigkeit bleibt, gaben die Anhänger der neuen Lehre Ausdruck mit dem Zitat VDMIAE – Verbum Domini manet in aeternum („Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“), das sie an Häusern, Glocken, Kirchenstühlen, Truhen etc. anbrachten.
Anfänge
Die Reformation fand in Westfalen nur zögerlichen Eingang. Noch 1521 stellte der päpstliche Nuntius Hieronymus Aleander fest, dass Münster ebenso wie die benachbarten Bistümer von der „Pest der lutherischen Ketzerei“ noch unberührt geblieben seien. Auch acht Jahre später scheint aus auswärtiger Perspektive Westfalen immer noch eine reformationsferne Landschaft gewesen zu sein. 1529 erkundigte sich nämlich der ehemalige Augustinereremit Johann Lang aus Erfurt bei seinem früheren Ordensbruder, dem späteren Herforder Reformator Johann Dreyer, wie es denn in Westfalen zugehe? Man höre nichts aus der Region, während doch anderswo die Reformation hohe Wellen schlage und das Evangelium hell scheine. Und wirklich lässt sich bis 1529/30 in Westfalen keine massenhafte Abkehr von der alten Kirche feststellen. Gleichwohl gab es natürlich bereits in den 1520er Jahren gelegentlich Proteste gegen überkommene kirchliche Zustände, erste lutherische Predigten oder Gesprächskreise, die sich mit der neuen Lehre auseinandersetzen.
Als ersten Prediger in Westfalen, der im Sinne Luthers Gottes Wort verkündete, darf wohl der Osnabrücker Augustinereremit Gerhard Hecker angesehen werden. Hecker stand seit mindestens 1521 mit seinem Ordensbruder Luther in Briefkontakt und war auch über das Wormser Verhör und Luthers Verbannung 1521 informiert. Der spätere westfälische Reformationschronist Hermann Hamelmann (1526–1595) schreibt, Hecker habe bereits 1521 die „reine Lehre“ verkündigt; allerdings wenn überhaupt wohl nur in den Mauern seiner Osnabrücker Klosterkirche. Auch die Brüder des Fraterhauses in Herford kamen früh mit Luther in Kontakt – und zwar über ihren Mitbruder Jakob Montanus († um 1534), der Verbindungen zu den Wittenberger Reformatoren pflegte und sich 1523 von Luther die Ansicht bestätigen ließ, dass bei der Beichte eine Aufzählung der Sünden nicht notwendig sei. Damit löste sich Montanus vom katholischen Sakramentsverständnis der Buße. Auch Montanus‘ Vorgänger Bartholomäus Amelen scheint bereits 1521 Interesse an Luthers Ideen gehabt zu haben.
Fragt man nach den Anfängen der Reformation in Westfalen, so muss auch ein Gewährsmann zitiert werden, der die Entwicklung argwöhnisch betrachtete: Der Böddeker Laienbruder Göbel, von dem eine Chronik seines Augustinerchorherrenstifts überliefert ist. Bereits 1526 konnte Göbel reformatorische Auswirkungen in seiner Heimat Hessen feststellen, denn dort wurde in der Fastenzeit Fleisch gegessen und die Heiligenstöcke, also Prozessionsstationen an den Wegesrändern, waren zerstört und geschmäht worden. 1526 wurde er in Hameln, Hildesheim und Braunschweig reformatorischer Polemik gegen Mönche folgend als "Wolf im Schafspelz" verspottet. Vom Bauernkrieg hatte er mit Schrecken vernommen, dass es in seinem Verlauf zu Kloster- und Bilderstürmen gekommen sei.
Auch in Minden fürchteten das Domkapitel, die Stände und der Adel des Hochstifts bereits 1525 reformatorische Strömungen, indem sie dem Administrator Franz von Braunschweig-Wolfenbüttel auferlegten, dass er die neue „Sache, die man Martinisch nennet“, nicht fördern solle. In Dortmund stiftete der Rat im Januar/Februar 1525 drei Betmessen gegen die „starke und tagtägliche Beeinträchtigung durch die Lehre Martin Luthers“. Zwischen 1523 und 1528 kam es in vielen westfälischen Städten auch zu Massenprotesten. Diese können als Vorboten der Reformation angesehen werden. Allerdings fehlten ihnen noch charismatische geistliche Anführer und ein religiöses Programm.
Das alles sind Anzeichen, dass die Lehre Luthers nicht mit umstürzender Macht, sondern eher schleichend und sukzessive auch in Westfalen sich verbreitete.