Karsten Igel
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Arme & Randgruppen

Die städtische Gesellschaft präsentierte sich schon früh als ein sozial stark ausdifferenziertes Gemeinwesen. Jedoch bleibt es für die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt trotz reicher Quellen schwierig, den tatsächlichen Grad der sozialen Differenzierung, insbesondere den Anteil von Armut und deren Bedeutung, zu erfassen und zu beschreiben. Zu bedenken ist zudem, dass die zeitgenössische Wahrnehmung von Armut und Randgruppen stets auch ein soziales Konstrukt war. Gleiches gilt für die von modernen Forschungsinteressen geleitete wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema. Die Untersuchungen zur städtischen Sozialstruktur gründen zumeist auf überlieferten Vermögensbesteuerungen, die so zwar mehr oder minder genaue Hinweise auf die Höhe des Vermögens bieten, aber keineswegs auf das verfügbare Einkommen als eigentlich entscheidendes Kriterium. Die häufig erfolgende Gleichsetzung von geringem oder fehlendem Vermögen mit Armut ist so tendenziell irreführend, es bedeutete zunächst einmal nur ein deutlich höheres Armutsrisiko. Zudem ist zu bedenken, dass die tatsächlichen Armen oder sozial Abhängigen (wie Handwerksgesellen) nicht notwendig in den Steuerverzeichnissen erscheinen. Ebenso wird inzwischen die Übertragung moderner Schichtungsmodelle, wie die Trias aus Ober-, Mittel- und Unterschicht, auf die vormoderne Stadt als kritisch eingestuft. Sie implizieren zu sehr ein fest gefügtes Ordnungsmodell und überdecken die durchaus bemerkenswerte soziale Mobilität, die nach oben wie eben auch nach unten führen konnte. Armutsgefährdend waren dabei Krankheit und Alter ebenso wie militärische und wirtschaftliche Krisensituationen, die das Armutsrisiko präsent hielten, das letztlich Mitglieder fast aller städtischen Sozialgruppen drohen konnte. Entsprechend ist eine soziale Kategorisierung nach Berufen ebenfalls problematisch: Kaufleute konnten dem Ruin anheimfallen wie andererseits Tagelöhner mit Vermögen nachgewiesen sind.

Der Umgang mit den Armen war im Spätmittelalter vom Ideal der Stadt als christlicher Gemeinschaft geprägt, die eine Unterstützung der Armen als gutes Werk einforderte – dies auch im Blick auf die eigene Jenseitsfürsorge der Stifter. Die Stiftungen reichten von Armenspenden in Form von Speisungen oder Kleidern bis hin zu Armenhäusern und Hospitälern. Als Träger erschienen neben privaten Stiftern vor allem auch die für ihre eigenen verarmten und alten Mitglieder einstehenden Zünfte und nicht zuletzt die Kommune selbst. Wie weit die Wirksamkeit der sozialen Unterstützung reichte, ist jedoch kaum zu fassen, ebenso die damit verbundene Frage, wie weit die städtische Armenfürsorge einen Anreiz für die Zuwanderung auswärtiger Armer bot und so eine Abgrenzung gegen diese erforderte. Ein Sonderfall waren die durch ihre Krankheit stigmatisierten Leprosen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt waren und zugleich mit der Unterbringung in Leprosorien außerhalb der Stadt sowie mit Erlaubnis des Bettelns eine soziale Absicherung fanden. Von zahlreichen Städten wurde daher zunächst ein Gutachten über die tatsächliche Erkrankung eingefordert, wozu entsprechende Einrichtungen – wie das Kölner Leprosenhaus Melaten – aufgesucht werden mussten.

In der Frühen Neuzeit zeigte sich unter dem Einfluss der Reformation und der modernen Staatsbildung ein Wandel im Umgang mit der städtischen Armut, die nun weniger als Element der christlichen Stadtgemeinschaft denn als kostspieliges Ordnungsproblem angesehen wurde, das einer entsprechenden Regelung bedurfte. Zudem wurde die Armenfürsorge durch die Einrichtung von Armenkästen, in denen ältere Stiftungen zusammengefasst wurden, stärker von den Kommunen zentralisiert. Neben der Unterstützung der Alten und Kranken gerieten nun jene als „faul“ angesehenen Menschen in den Fokus, die durch obrigkeitlichen Druck in Arbeit gebracht werden sollten. Ab dem frühen 17. Jh. fand diese Forderung mit der Einrichtung von städtischen Arbeits- und Zuchthäusern ihren institutionellen Ausdruck.

Kaum weniger kompliziert als die Erfassung von Armut ist der Blick auf solche Randgruppen in der Stadt, die als ehrlos betrachtet wurden, da hier in starkem Maße Forschungsmythen prägend sind und es häufig noch an eingehenderen Studien mangelt. Die Benennung bestimmter Gewerbe als unehrlich – wie Müller, Leinenweber, Barbiere, Bader, Chirurgen, Henker, Abdecker und Totengräber – entstammen zumeist dem Kontext der Zünfte. Sie dienten wie der Makel einer unehelichen Geburt der Abschottung, um die Aufnahme und ungewollte Konkurrenz begrenzen zu können. Dabei gingen diese Charakterisierung weder mit einer wirtschaftlichen Schwäche der Betroffenen einher, noch musste sie einer tatsächlichen Wahrnehmung in der gesamten Stadtgesellschaft entsprechen. Hier dürfte nach Regionen, Gewerben und zeitlichen Phasen deutlich zu unterscheiden sein. Detailstudien zu Scharfrichtern und Abdeckern (Wilbertz) zeigten, dass in den untersuchten Regionen entgegen den noch immer nachwirkenden Forschungstraditionen kaum von einer gesellschaftlichen Marginalisierung oder Ausgrenzung dieser Gruppen gesprochen werden kann. Ambivalent war die Stellung der Juden. Als nichtchristliche Religionsgemeinschaft standen sie außerhalb der städtischen Sakralgemeinschaft, gehörten aber häufig zu den wohlhabenderen und gebildeten Familien. Zudem war die Abgrenzung zur christlichen Nachbarschaft im Mittelalter zunächst noch offener, verschärfte sich aber im Spätmittelalter mit den Verfolgungen und Vertreibungen der jüdischen Gemeinden.

Wohl tatsächlich am Rand der Gesellschaft standen die Prostituierten aufgrund ihres Gewerbes; die kommunale Regelung desselben zeugt allerdings wenigstens zum Teil von der Akzeptanz als ein vielleicht nicht notwendiges, aber kaum vermeidbares Übel. Seit dem 14. Jh. kam es in verschiedenen Städten (z.B. Greifswald, Köln, Leipzig) zur Einrichtung städtischer Frauenhäuser. Die räumliche Konzentration der Prostitution unter Aufsicht des Rates bzw. der von ihm Beauftragten ermöglichte eine Überwachung der Frauen wie auch des zugelassenen Kundenkreises und lenkte zusätzlich einen Teil der Einnahmen in die Stadtkasse. Die Prostituierten bieten so ein frühes Beispiel für einen obrigkeitlichen Umgang mit sog. Randgruppen.

Karsten Igel (1.9.2014)

Literaturhinweise

  • Hergemöller, Bernd-Ulrich (Hg.): Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft: ein Hand- und Studienbuch, Warendorf ²1994.
  • Hippel, Wolfgang von: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 34), München 1995.
  • Igel, Karsten: Zwischen Bürgerhaus und Frauenhaus. Stadtgestalt, Grundbesitz und Sozialstruktur im spätmittelalterlichen Greifswald (Städteforschung A 71), Köln [u.a.] 2010.
  • Irsigler, Franz/Lassotta, Arnold: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt, München 1989.
  • Wilbertz, Gisela: Scharfrichter und Abdecker im Hochstift Osnabrück. Untersuchungen zur Sozialgeschichte zweier „unehrlicher“ Berufe im nordwestdeutschen Raum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 22), Osnabrück 1979.

Diese und weitere Literaturangaben sind zu finden in der Mediensuche.