Forschungstraditionen - Wissenschaftsgeschichte
Der wissenschaftliche Blick auf „die“ Stadt war immer eng mit dem verbunden, was jede Generation unter dem Begriff „Stadt“ verstand. Die Geschichte der Städteforschung begann bereits Ende des 18. Jhs. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung der Zeit – Französische Revolution und Deutscher Vormärz – war das Paradigma dieser frühen Stadtgeschichtsforschung der “freie Bürger“ im Gegensatz zum Adel und zum Klerus. Die Stadt – insbesondere die mittelalterliche Stadt – wurde zum positiv besetzten Hort bürgerlicher Autonomie und Selbstbestimmung in einer ansonsten herrschaftlich und kirchlich geprägten Zeit. Ausgehend von den damals bekannten Quellen – Urkunden und Rechtstexte (MGH Diplomata-Bände) – lag der Schwerpunkt der Forschung zu dieser Zeit auf der städtischen Wirtschaft und ihrer rechtlichen Verfasstheit. Die Rechtsgeschichte dominierte die frühe Stadtgeschichtsforschung – wichtigstes Untersuchungsfeld waren demnach die städtische Verfassung, das städtische Recht und seine Quellen (Below 1889). Das städtische Recht wurde somit zum zentralen Kriterium des Städtischen an sich. Neben diesem traten auch die genossenschaftlichen Organisationsformen innerhalb der Stadt in das Blickfeld der Forschung (Gierke 1869), so dass nicht nur der Rat, sondern ebenso die Zünfte, Innungen und Gilden von Interesse waren. Es ging um ihre Rolle in der städtischen Verfasstheit und um ihre wirtschaftlichen Funktionen.
Mit Beginn des 20. Jh. traten im Gefolge der „Jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie“ die Wirtschaft und das Handwerk ins Blickfeld der Städteforschung. Hier sind Gustav Schmoller (DNB) mit seinen Untersuchungen zum Straßburger Zunftwesen (Schmoller 1879) sowie sein Schüler Werner Sombart (DNB) zu nennen. Analog zur rechtshistorischen Städteforschung stellten Schmoller und Sombart die ökonomischen Faktoren der Stadt auch bezüglich der Definition in den Vordergrund. Max Weber, dessen Aufsatz „Die Stadt“ bereits in der zeitgenössischen Diskussion, vor allem aber seit den 1990er Jahren stark rezipiert wurde und der den Weg für einen erweiterten Stadtbegriff geöffnet hat, fußt auf den Arbeiten Schmollers und Sombarts. Ähnlich wegweisend wie Webers Aufsatz wurden für die Stadtgeschichtsforschung der ersten Hälfte des 20. Jh. auch die „Thesen“ des Schweizer Städteforschers Hektor Ammann (DNB). Ammann betonte die Gleichwertigkeit der verschiedenen städtischen Kriterien (also Recht, Wirtschaft, Topographie, Statistik und behördliche Infrastruktur) und die Notwendigkeit, einen zeit- und epochenunabhängigen, übergeordneten Stadtbegriff zu entwickeln.
In der Nachkriegszeit, vor allem seit Beginn der 1950er Jahre erlebte die Städteforschung und besonders die mediävistische Städteforschung einen starken Aufschwung: Hintergrund des neuen Interesses waren auch die großflächigen Zerstörungen vieler deutscher Städte im II. Weltkrieg und die zum Teil komplette Veränderung gewachsener Stadtstrukturen durch den anschließenden Wiederaufbau der 1950er und 1960er Jahre. Diese Verlusterfahrung führte zu einer intensiven Beschäftigung mit der ‚alten‘ Stadt. Wegweisende wissenschaftliche Arbeiten dieser Zeit waren die fast zeitgleich publizierten Untersuchungen der Historikerin Edith Ennen (DNB) zur Frühgeschichte der europäischen Stadt (1953) und des Rechtshistorikers Hans Planitz (DNB) zur deutschen Stadt im Mittelalter (1954), die beide bereits auf Arbeiten der 1930er Jahre fußten. Der Blick der Forschung konzentrierte sich nun auf die Frühform der Stadt und fragte nach den Gründen des mittelalterlichen Urbanisierungsschubs und den Motiven des Städtewachstums. Mit Blick auf die stark urbanisierten Städtelandschaften in Flandern und Oberitalien machte man als Movens der Stadtentstehung den Fernhandel aus, und die Gruppe der Fernhändler trat als Städtegründer in das Blickfeld der Forschung.
Parallel zu dieser akademischen Beschäftigung mit der Stadt setzten Bücher wie „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ des Arztes und Architekturkritikers Alexander Mitscherlich (DNB) von 1965 eine öffentliche Debatte über die Zukunft der Städte in Gang und bereiteten den Boden für die Gründung verschiedener interdisziplinärer Arbeitskreise und Institute zur historischen Städteforschung: 1966 entstand das von der Stadt Berlin und dem Deutschen Städtetag getragene Kommunalwissenschaftliche Forschungszentrum (KWFZ) mit Sitz in Berlin, das 1973 in das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) überging. Parallel entstand die „Arbeitsgemeinschaft für reichsstädtische Geschichtsforschung, Denkmalpflege und bürgerschaftliche Bildung“, die seit 1974 die wichtige Zeitschrift „Die alte Stadt“ (seit 2010 „Forum Stadt“) herausgab. 1974 folgte der Arbeitskreis „Geschichtliche Entwicklung des Stadtraumes“, angesiedelt an der Akademie für Raumforschung und Landesplanung Hannover (ARL). Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das „Europäische Denkmalschutzjahr 1975“ dar und die Denkmalschutz-Charta des Europarates vom 26. September 1975, die den Grundstein für den modernen Denkmalschutz legte. Vor diesem Hintergrund ist auch die Gründung des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster zu sehen. Das von Heinz Stoob (DNB) 1969 initiierte An-Institut der WWU Münster übernahm als Grundausstattung die wissenschaftlichen Nachlässe Hektor Ammans und der Marburger Forschungsstelle für Städtegeschichte. Ziel war eine interdisziplinäre Stadtgeschichtsforschung auf der Grundlage des Forschungsprogramms der Commission internationale pour l'histoire des villes mit den zentralen Aufgaben: 1. Bibliographien zur Städteforschung, 2. Lexika und Handbücher, 3. Quellenedition zum Städtewesen und 4. Historische Städteatlanten.
Die nach wie vor eher rechts- und wirtschaftsgeschichtlich ausgerichtete Forschung der ersten Hälfte des 20. Jh. wurde seit den 1960er Jahren verstärkt durch sozialgeschichtliche Fragestellungen abgelöst. Die Stadt wurde als Ort religiöser und sozialer Entwicklungen und Reformationsprozesse wahrgenommen. Wichtige Untersuchungsfelder dieses Forschungsansatzes waren die Arbeiten zur städtischen Reformation (Moeller 1962), zu sozialen und politischen Konflikten innerhalb der Stadt (Ehbrecht 2001; Blickle 1988) und zur sozialen Schichtung der städtischen Bevölkerung (Maschke 1980). Als eine Weiterentwicklung dieses sozialgeschichtlichen Ansatzes ist seit den 1990er Jahren die neuere Kulturgeschichte zu nennen, die verstärkt die symbolischen Formen – Zeichen, politische Sprache, kollektive Repräsentationen und Rituale – innerhalb der Stadt in den Blick nimmt.
Während die ältere Städteforschung des 19. und 20. Jhs. ganz auf die mittelalterliche Stadt konzentriert blieb, führten diese neuen sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen seit den 1980er Jahren zu einer ‚Entdeckung‘ der Stadt durch die Frühneuzeitforschung (Gerteis 1986; Schilling1993; Friedrichs1995). Wichtige Themenfelder wurden dementsprechend die ‚städtische‘ Reformation, der Bauernkrieg und das Verhältnis zwischen Stadt und Landesherrn während der Ausbildung der Territorien.
Vor dieser Neubewertung hatte die ältere Forschung die Zeit zwischen 1500 und 1800 v. a. als Epoche des Verfalls und Niedergangs bewertet. Ausgangspunkt dafür war die geringe Zahl an neuen Stadtgründungen seit 1500 und eine vermeintlich geringere Prosperität durch die Auswirkungen von Pest, Kriegen und Hungersnöten. In der Tat wurden in den drei Jh. der Frühen Neuzeit weitaus weniger Städte gegründet als im Mittelalter. Gleichzeitig fanden jedoch jene Prozesse statt, die den Übergang vom mittelalterlichen zum modernen Städtewesen maßgeblich beeinflussten.
Der Blick auf die Stadt in der Frühen Neuzeit führte gleichermaßen dazu, dass sich der Fokus der Forschung zunehmend von den Großstädten, den Reichs- und Bischofsstädten sowie den wirtschaftlich potenten Hansestädten auf die mittleren und kleinen Städte verschob. Waren die sog. Minderstädte bereits von der mittelalterlichen Städteforschung als Typenbegriff für das Spätmittelalter eingeführt worden (Ehbrecht 2006), wurden die ‚kleinen Städte‘ seit den 1990er Jahren von der Frühneuzeitforschung verstärkt behandelt (Clark 1995; Gräf 1997; Keller 2001). Nicht nur das Zusammenspiel von Städten in den großen Verbünden, wie z.B. der Hanse, wurde beleuchtet, sondern insbesondere auch das Verhältnis von Städten und ihrem städtischen und ländlichen Umland im Übergang von Mittelalter zu Früher Neuzeit (Kiessling1989; Gräf/Keller 2004).
Nur angedeutet werden können an dieser Stelle die wichtigen Einflüsse der Nachbarwissenschaften auf die historische Städteforschung. Zu nennen ist neben der historischen Geographie und der Siedlungsforschung vor allem die Mittelalterarchäologie, die seit den 1970er Jahren grundlegend neue Erkenntnisse zur Entstehung und Entwicklung von Städten ermöglichte.
Wichtige Impulsgeber der älteren historischen Städteforschung:
Georg von Below (1858–1927;DNB) sah als herausragender Vertreter der rechtshistorisch ausgerichteten Städteforschung des 19. Jhs. die Stadtverfassung als konstitutiv für den Stadtstatus an.
Gustav Schmoller (1838–1917; DNB) und sein Schüler Werner Sombart (1863–1941; DNB) waren Mitglieder der „Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie“ und postulierten eine wirtschaftlich ausgerichtete Stadtdefinition. Sie wandten sich gegen die bis dahin vornehmlich rechtshistorisch orientierte Städteforschung.
Max Weber (1864–1920; DNB) entwickelte in seinem Aufsatz „Die Stadt“ einen „Idealtypus“ der mittelalterlichen Stadt, der sich stark auf wirtschafts- und rechtsgeschichtliche Überlegungen stützte. Mit seiner Gegenüberstellung von okzidentaler und orientalischer bzw. asiatischer Stadt schuf er die Grundlagen für spätere Definitionsversuche (Bruhns/Nippel 2000). Für ihn waren die Merkmale der „okzidentalen Stadt“: die Befestigung, der Markt, das eigene Gericht (bzw. teilweise eigenes Recht), der Verbandscharakter der Gemeinschaft und eine zumindest partielle Autonomie, d.h. Behörden, an denen die Bürger in irgendeiner Form beteiligt sind. (s. Haase (1975), S. 34–59). Ergänzend zu seinem Konzept des Idealtypus begriff er seine Beschreibung bereits als Kombination verschiedener Merkmale, deren Gewichtung von Stadt zu Stadt unterschiedlich ausgeprägt sein kann.
Hektor Ammann (1894–1967; DNB) ging 1930 in seinen „Thesen“ der Zeit entsprechend ebenfalls von der Ökonomie und dem Handel als zentralen Kriterien des Stadtbegriffs aus, weitete diesen aber ausdrücklich auf eine Kombination verschiedener Merkmale hin aus. Auf der Grundlage seiner Forschungen zu den schweizerischen Städten entwickelte er Modelle zur Stadtentstehung und wies bereits auf die Existenz und die Bedeutung von Städtelandschaften hin – ein Forschungsaspekt, der intensiver erst seit den 1990er Jahren bearbeitet wurde.
Erich Keyser (1893–1968; DNB), Begründer des Deutschen Städtebuchs, hat wichtige Arbeiten zur Geschichte Danzigs vorgelegt. Sein Werk „Städtegründungen und Städtebau in Nordwestdeutschland im Mittelalter“ von 1958 sowie seine Untersuchungen zur Stadtgestalt (Der Stadtgrundriß als Geschichtsquelle, Sonderdr. Berlin 1963; Das Gesicht der Stadt: die Stadtansicht, in: Auf den Spuren des Bildes: von der Höhlenmalerei zum Elektronenfoto, bearb. und eingeleitet von Rainer Zimmermann, Tübingen [u.a.] 1961, Tafel 25) sind grundlegend für die morphologische Städteforschung. In seinen zum Teil stark revisionistisch geprägten Arbeiten bekannte er sich ausdrücklich zu „einer ausgesprochen völkisch eingestellten Geschichtsauffassung“. Die Titel „Geschichte des deutschen Weichsellandes“, „Danzigs Vergangenheit“ sowie „Bevölkerungsgeschichte Deutschlands“ wurden in der Nachkriegszeit in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt. Keyser leitete seit 1950 die Marburger „Forschungsstelle für Städtegeschichte“, 1951–1959 war er Direktor des neu gegründeten Herder-Instituts. Die Bibliothek der Marburger Forschungsstelle wie auch der Auftrag zur Neubearbeitung des Deutschen Städtebuchs gelangten 1969 als Nachlass an das Institut für vergleichende Städtegeschichte in Münster.
Edith Ennen (1907–1999; DNB), seit 1947 Leiterin des Bonner Stadtarchivs und 1968 erste Frau der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, hat wichtige Impulse für die mediävistische Städteforschung der Nachkriegszeit gesetzt. In ihrem Werk „Frühgeschichte der europäischen Stadt“ (1953) wies sie auf die Bedeutung von Städtelandschaften hin, wobei sie besonders die Kontaktzonen von latinisierten und germanischen Räumen im Blick hatte. Weitere wichtige Werke, die eine große Breitenwirkung entfalteten, sind „Die europäische Stadt des Mittelalters“ (1972) sowie „Frauen im Mittelalter“ (1984).
Carl Haase (1920–1990; DNB) entwickelte anhand der westfälischen Städtelandschaft den „kombinierten Stadtbegriff“ mit folgenden Kriterien: Wirtschaft, Recht, Topographie, Statistik und behördliche Infrastruktur (s. Haase (1984), S. 1–11). Damit griff er die Überlegungen Webers und Ammanns auf, betonte aber, dass keiner dieser Aspekte allein ausreiche, um das Städtewesen über den gesamten Zeitraum adäquat zu beschreiben, weshalb er für einen „kombinierten Stadtbegriff“ plädierte.
Heinz Stoob (1919–1997; DNB) prägte parallel zu Haase den Begriff der „Minderstädte“, der deutlich macht, wie fließend die Grenzen zwischen Stadt und Dorf sein können. „Minderstädte“ (auch „Weichbild“/„Wigbold“ oder „Freiheit“) sind nach Stoob solche Orte, die über kein vollständiges Stadtrecht verfügten oder die aufgrund von äußeren oder inneren Einflüssen nicht vollständig zur Stadt wachsen konnten. Stoob schuf zudem ein grobes Phasenmodell der europäischen Stadtentwicklung und setzte es kartographisch in verschiedenen Verbreitungskarten um:
- Städte bis 1150: sog. Mutterstädte (z. B. Köln, Duisburg, Bremen, Minden, Hamburg, Frankfurt, Nürnberg, Ulm, Regensburg)
- 1150–1250: Gründungsstädte (z. B. Freiburg i. Br., Leipzig, Lübeck, München, Lippstadt)
- 1250–1300: Kleinstädte
- 1300–1450: Minderstädte
- 1450–1800: „Städtetal“, wenig Neugründungen, aber neue Stadttypen
- 1800 bis heute: neue Städtewelle
Auswahl wichtiger wissenschaftlicher Institute und Arbeitskreise in Deutschland und Europa, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten Stadtgeschichts- und Urbanisierungsforschung betreiben:
- CMS – Center for Metropolitan Studies, Berlin
- Centre for Urban History, Leicester
- difu – Deutsches Institut für Urbanistik, Berlin
- European Association for Urban History
- GSU – Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung e. V., Darmstadt
- ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung NRW
- IStG – Institut für vergleichende Städtegeschichte, Münster
- Internationale Kommission für Städtegeschichte
- Österreichischer Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung
- Schweizerischer Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung
- Südwestdeutscher Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung
Angelika Lampen (1.9.2014)