Stadtbegriff
Eine allgemeingültige epochen- und regionenübergreifende Definition für „die“ Stadt existiert nicht. Dennoch wurde immer wieder versucht, Merkmale festzulegen, um den Typus „Stadt“ von anderen Siedlungsformen abzugrenzen und genauer beschreiben zu können.
Im 19. Jh. waren es entsprechend der damaligen Ausrichtung der Städteforschung vor allem rechtliche und ökonomische Merkmale, anhand derer man die Stadt vom Land zu unterscheiden suchte. Max Weber fasste diese Ansätze zusammen und schuf im frühen 20. Jh. die Grundlage für einen erweiterten Stadtbegriff, der verschiedene Aspekte des Städtischen berücksichtigt. Carl Haase (DNB) prägte dann in den 1950er Jahren den „kombinierten Stadtbegriff“, indem er ausführte: „Man wird notwendigerweise zu einem ‚kombinierten‘ Stadtbegriff kommen müssen, der die Einzelbegriffe in ihrer Einseitigkeit überwindet, in sich aufnimmt und so die Stadt als Ganzheit zu erfassen strebt. Nur eine Summe von Kriterien kann den Stadtbegriff ausmachen“ (Haase 1958, S. 22). Als zentrale Kriterien für diesen nannte er Wirtschaft, Recht, Topographie, Statistik und behördliche Infrastruktur.
Die unterschiedliche Gewichtung einzelner Merkmale bzw. das Wegfallen oder Hinzutreten von Aspekten im Lauf der Geschichte ist für die Definition des Stadtbegriffs konstitutiv. Bei aller Flexibilität und Variabilität des Begriffs ist jedoch zu betonen, dass jede Definition ein Leitbild voraussetzt, das ähnlich wie der Idealtypus von Max Weber (DNB) funktioniert. Für „die“ Stadt bietet sich dabei das Städtewesen um 1200 an, da sich hier viele der genannten Kriterien erstmals ausbildeten.
Eine sehr allgemeingültige Definition, die in der aktuellen Städteforschung weite Anerkennung findet, hat zuletzt der Trierer Historiker Franz Irsigler (DNB) formuliert und in Diskussionen mit der Fachwissenschaft weiter ausdifferenziert:
„Stadt ist eine vom Dorf und nichtagrarischen Einzwecksiedlungen unterschiedene Siedlung relativer Größe mit verdichteter, gegliederter Bebauung, beruflich spezialisierter und sozial geschichteter Bevölkerung und zentralen Funktionen politisch-herrschaftlich-militärischer, wirtschaftlicher und kultisch-kultureller Art für eine bestimmte Region oder regionale Bevölkerung. Erscheinungsbild, innere Struktur sowie Zahl und Art der Funktionen sind nach Raum und Zeit verschieden: Die jeweilige Kombination bestimmt einmal die Individualität der Stadt, zum anderen ermöglichen typische Kombinationen die Bildung von temporären und regionalen Typen oder Leitformen, je nach den vorherrschenden Kriterien“ (Irsigler 2001, S. 63). Irsigler greift mit seiner Definition die verschiedenen Merkmale des Städtischen auf, erweitert diese aber um den Hinweis auf zeitlich und regional geschichtete, unterschiedliche Städtetypen.
Grundlegende Kriterien eines kombinierten Stadtbegriffs, mit denen auch heute noch Städte beschrieben werden können, sind: Größe und Einwohnerzahl, Rechtsstatus und Autonomie, Stadtgestalt und Befestigung sowie Marktfunktion und Zentralität. In jüngster Zeit tritt zudem der Grad der Urbanität als qualitatives Merkmal des Städtischen hinzu:
1. Einwohnerzahl und Größe
Eine für alle Städte festgelegte Mindesteinwohnerzahl ist aufgrund der unterschiedlichen naturräumlichen Gegebenheiten als einziger Beschreibungsfaktor kein geeignetes Kriterium, das auf alle Städte gleichermaßen angewandt werden kann. So gelten in Deutschland Gemeinden ab 2.000 Einwohner als Städte, in Island dagegen bereits Siedlungen mit mehr als 200 Einwohnern. In Japan hat eine Stadt mindestens 50.000 Einwohner. (Paesler 2008, S. 9f.; vgl. auch Sombart 1907, S. 5)
2. Rechtsstatus und Autonomie
Für Deutschland und Mitteleuropa wird in der Forschung immer wieder auf das Stadtrecht als notwendige Voraussetzung für den Stadtstatus verwiesen. Das Stadtrecht wurde jedoch aus unterschiedlichen Motiven und in unterschiedlichen Formen verliehen, und es war weder an die Größe noch an die Einwohnerzahl gebunden. So gab es bereits im Mittelalter Siedlungen mit eindeutigem Stadtcharakter, für die kein formelles Stadtrecht nachweisbar ist. Auf der anderen Seite existieren Städte mit einem formell bestätigten Stadtrecht, die nach Aussehen und Funktion nicht als Städte angesprochen werden können. Zudem besitzt das Stadtrecht als Nachweiskriterium nur für die Vormoderne einige Aussagekraft. Zwar gibt es auch heute in einigen Ländern noch einen rechtlichen Unterschied zwischen Siedlungen, die einen Stadttitel führen und solchen, denen dieser nicht verliehen wurde – in Deutschland wurde diese Unterscheidung mit der Änderung der Gemeindeordnung von 1935 jedoch gänzlich aufgehoben. Seitdem bestehen zwischen Städten und sonstigen Gemeinden in rechtlicher Hinsicht keinerlei Unterschiede mehr, sondern nur noch bezüglich der Verteilung administrativer Funktionen.
3. Stadtgestalt und Befestigung
Eine Definition durch die Stadtmorphologie, d.h. auf der Grundlage der Gestalt einer Siedlung, ist seit der Industrialisierung und den daraus resultierenden städtebaulichen Umwälzungen nicht mehr möglich. Die früher als unverzichtbares Kriterium angesehene Befestigung als Abgrenzungskriterium zum Land erwies sich bereits für das Mittelalter nicht als relevantes Kriterium, denn es gab sowohl befestigte Dörfer als auch unbefestigte Städte. Spätestens in der Frühen Neuzeit mit der Entfestigung zahlreicher bestehender und der Neugründung weiterer Städte ohne Mauern war dies kein Merkmal mehr. Die scharfe verfassungsrechtliche Trennung von „innerhalb der Mauer“ (= Stadt) und „außerhalb der Mauer“ (= Dorf/Land) in der mediävistischen Städteforschung ist der Forschungstradition des 19. Jh. geschuldet und hat die Forschung lange isoliert. Ein wichtiger Neuansatz der historischen Städteforschung seit den 1980er Jahren war daher die Einbeziehung des städtischen Umlandes bzw. die Betonung der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Umland.
4. Marktfunktion und Zentralität
Ein für alle Zeiten zentrales Merkmal von Städten ist jedoch die Marktfunktion. Dabei wird „Markt“ als ein Zentrum verstanden, das unterschiedliche Güter distribuieren konnte, neben Waren und Produkten etwa auch Informationen und Kontakte. Um einer rein wirtschaftlichen Konnotation zu entgehen, wird heute allgemein der von dem Geographen Walter Christaller (DNB) in den 1930er Jahren geprägte Begriff „Zentralität“ als das wichtigste Kennzeichen einer Stadt verwendet (Christaller 1933). Für die historische Städteforschung weiterentwickelt und fruchtbar gemacht wurden die Thesen Christallers durch den Stadtgeographen Peter Schöller (DNB) (Schöller (Hg.), Zentralitätsforschung, Darmstadt 1972). Ein zentraler Ort weist damit einen Bedeutungsüberschuss für das ihn umgebende Ergänzungsgebiet auf. Unter dem Begriff „Zentralität“ werden räumliche und soziale bzw. wirtschaftliche Kriterien kombiniert:
- Dichte und Zentrierung: Die Bevölkerung konzentriert sich auf einer begrenzten Fläche. Der Anteil der Bevölkerung pro Flächeneinheit nimmt zum Zentrum hin zu.
- Funktioneller Bedeutungsüberschuss: Die Stadt bietet für das Umland Arbeit, Versorgung, Kultur- und Bildungseinrichtungen, Innovationen und ist Sitz ökonomischer und/oder politischer Machtzentren.
- Spezifische sozioökonomische Struktur: Die Erwerbsstruktur ist nicht agrarisch und auf das Umland ausgerichtet. Es gibt eine breite Ausdifferenzierung an unterschiedlichen Produktionsstätten und Gewerben bzw. Dienstleistungen. Der Anteil von erwerbstätigen Frauen und auswärtigen Arbeitskräften ist signifikant.
- Intensive Stadt-Umland-Beziehungen: Das große Angebot an Arbeitsplätzen, Wohnraum, Dienstleistungen und Freizeitmöglichkeiten zeichnet die Stadt gegenüber dem Umland aus. Konsequenz ist eine entsprechende Infrastruktur und ein hohes Verkehrsaufkommen.
5. Soziologische Merkmale
In jüngster Zeit werden diese messbaren Indikatoren um qualitative Merkmale ergänzt, die eine bestimmte städtische Lebensweise markieren. Hierfür hat sich der Begriff „Urbanität“ etabliert. Begriffsleitend ist dabei vor allem die in der Stadt zu beobachtende Differenzierung in Bezug auf die Siedlungs- und Erwerbsstruktur. Verbunden damit ist eine deutliche hierarchische Gliederung der Stadtgesellschaft mit scharfen sozio-ökonomischen Gegensätzen. Ein hohes Maß an Anonymität bei gleichzeitig größtmöglicher Entfaltung von individuellen Lebensstilen, eine gewisse Gleichgültigkeit, aber auch Toleranz gegenüber anderen sind weitere qualitative Merkmale urbanen Lebens.
Angelika Lampen/Christine D. Schmidt (1.9.2014)