Patrizier
Bereits zu Beginn der mittelalterlichen Kommunebildung lassen sich in den Städten Gruppen fassen, die den Rat als bürgerliche Selbstvertretung bestimmen (z.B. die Kölner Richerzeche schon im 12. Jh.). Der Begriff als Selbstbezeichnung städtischer Führungsgruppen erscheint erst in der Frühen Neuzeit (1516 Christoph Scheurl DNB, Nürnberg) im Rückgriff auf das römische Patriziat. Als historischer Ordnungsbegriff wird das Patriziat hingegen auch für die führenden Gruppen spätmittelalterlicher Städte verwendet.
Als Kriterien gelten – neben der dominanten Stellung innerhalb des Rates – ein nicht aus handwerklicher Tätigkeit, sondern aus Handel oder Renten erwirtschaftetes Einkommen, die Herkunft aus geburtsständisch innerhalb der Stadt privilegierten Familien und einer damit verbundenen Abschottung der Heiratskreise. Die Herkunft der Führungsgruppen lässt sich oftmals auf die ursprünglich mit dem Stadtherrn verbundenen Familien wie die Ministerialen (Dienstmannen) zurückführen. Kennzeichnend ist der Zusammenschluss in bruderschaftlich organisierten Gruppen wie Hausgenossenschaften und Trinkstubengesellschaften (z.B. Gesellschaft zur Katz in Konstanz). Für die hoch- und spätmittelalterliche Stadt wird dabei zumeist der Begriff der Geschlechter oder eines Stadtadels bevorzugt (z.B. für die Erbmänner in Münster).
Zu den leitenden Beispielen der Patriziatsforschung zählt das Nürnberger Patriziat nicht nur aufgrund der frühen Selbstbenennung. Beispielhaft ist die geburtsständische Abschließung auf 42 zum Patriziat zugelassene Familien mit dem Tanzstatut von 1521. Ebenso die Abhaltung von eigenen – Gesellenstechen genannten – Turnieren seit dem 15. Jh., zu denen allein die Söhne der im Rat vertretenen Geschlechter zugelassen waren. Solche Turniere dienten ebenso der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung wie die Anlage von Herkommen erfassenden und konstruierenden Familien- oder Geschlechterbüchern.
Die auf eher rechtlichen Kriterien und einzelnen Städten fußende Eingrenzung des Forschungsbegriffes Patriziat fand aber stets Kritik hinsichtlich der verallgemeinernden Übertragung auf andere Städte. Im Zuge der kulturgeschichtlichen Wende wurde zudem ein stärkerer Blick auf das Selbstverständnis der Patrizier und dessen Kommunikation eingefordert. Insgesamt zeigt sich bei den unter dem Begriff Patriziat zusammengefassten Führungsgruppen ein weites Spektrum in der Ausformung: Während es in süddeutschen Städten zu einer stärkeren Abgrenzung kam, waren die führenden Familien der niederdeutschen Städte, insbesondere im hansischen Raum, offener – auch gegenüber Zuzüglern aus anderen Städten. Andererseits ermöglichte es die in den Städten lübischen Rechts übliche Kooptation (Zuwahl) auf Lebenszeit, den Zugang zum Rat dauerhaft auf bestimmte Familien zu begrenzen. Für Lübeck, das eine sehr hohe Fluktuation der ratsfähigen Familien aufweist, wird die Existenz eines Patriziats daher häufig verneint. Mit der Zirkelgesellschaft fand sich aber auch dort eine bruderschaftlich verbundene Korporation führender Familien.
Die Bedeutung des Selbstverständnisses zeigt sich deutlicher in der Frühen Neuzeit. Mit der seit dem 15. Jh. zunehmenden Abgrenzung der niederadligen Familien gegenüber den städtischen Führungsgruppen einerseits und der innerstädtischen Abschottung gegen nachrückende Familien andererseits kam es verstärkt zu Rang- und Ehrkonflikten um die Zugehörigkeit zu einem Patriziat. In ihnen zeigt sich, wie die patrizischen Familien sich selbst als zusammengehörenden Verband betrachteten, aber auch, dass die Grenzen nicht rein normativ zu ziehen sind. Der zeitgenössische Diskurs der Selbstvergewisserung bietet so einen wichtigen Ansatz zur Erforschung der unterschiedlichen städtischen Patriziate.
Karsten Igel (1.9.2014)