Rathaus
Mit dem Erscheinen eines städtischen Rates im 12. und 13. Jh. ergab sich die Notwendigkeit, einen festen Ort für die regelmäßigen Sitzungen der Ratsherren zu schaffen. In vielen Städten tagte der Rat zunächst in der zentralen Hauptpfarrkirche oder in einem Privathaus, das einem der Ratsherren gehörte. Als älteste Rathäuser im deutschsprachigen Raum gelten die Rathäuser in Köln und Soest. Verbunden mit dem Marktrecht, das vom Rat kontrolliert wurde, waren Rathäuser in vielen Städten zunächst in erster Linie Kaufhäuser in Marktnähe. Das Rathaus fungierte somit als Ort der Marktverwaltung und Marktkontrolle. Darüber hinaus bildete es den Verwaltungsmittelpunkt der Stadt, diente als Gerichtsort und beherbergte Gefängnis, Lagerraum, Hochzeits- und Tanzsaal. Das Rathaus war somit ein multifunktionales Gebäude und ließ in der Stadt neben Burg oder Kirche ein weiteres bürgerliches Herrschaftszentrum entstehen.
Die Lage des Rathauses wurde durch die verschiedenen Machtzentren und Rechtsgrenzen innerhalb der Stadt bestimmt. Zur Abgrenzung gegen einen bischöflichen Stadtherrn wurde das Rathaus z.B. häufig in unmittelbarer Nähe zu der Mauer errichtet, die Domimmunität und städtischen Rechtsbereich voneinander trennte (z.B. in Münster, Naumburg a.d. Saale, Bremen und Osnabrück). Rathäuser an oder in der Nähe der Stadtmauer sind typisch für Städte, die durch den Zusammenschluss einer Alt- und einer Neustadt zu einem Rechtsbezirk entstanden. Häufig wurde das Rathaus der Neustadt dann bald aufgegeben, und die Rechtsprechung und die Sitzungen des gemeinsamen Rates fanden ausschließlich im Rathaus der Altstadt statt (z.B. Braunschweig, Osnabrück, Quedlinburg). Um die endgültige Vereinigung der beiden Rechtsbezirke von Alt- und Neustadt zu manifestieren, baute man in besonderen Fällen ein neues Rathaus auf ihre frühere Grenze. In Mühlhausen i.T., Berlin, Zürich und Bamberg wurde das Rathaus sogar über dem Fluss errichtet, der zuvor die Stadtrechtsbezirke getrennt hatte.
In Städten mit enger herrschaftlicher Anbindung, wie etwa Speyer, Aachen und Weimar, wählte man für die Rathäuser traditionelle Standorte, die fest mit der Herrschaft des Stadtherrn verbunden waren und der Ratsregierung zusätzliche Legitimation verliehen. In Aachen war dies z.B. der Ort, an dem zuvor die königliche Pfalz gestanden hatte. In den bereits im 12. Jh. gegründeten niederdeutschen Städten stand dagegen die Kontrollfunktion über den Markt im Mittelpunkt, weshalb das Rathaus dort zunächst ein Kaufhaus war und sich in unmittelbarer Nähe des Marktes befand. Anderenorts errichtete man das Rathaus direkt an der Pfarrkirche bzw. der den Kirchhof umgrenzenden Mauer. Gerade in den Städten der nördlichen Hanse, z.B. in Bremen und Stralsund, wurde dann auch der Kirchhof mit in die Hoheit des Rates einbezogen und zu repräsentativen Zwecken und zur Herrschaftsstärkung genutzt. So konnten dort Gerichtsverhandlungen und Hinrichtungen stattfinden. Anlässlich wichtiger Ereignisse zog der Rat in Prozessionen aus dem Rathaus über den Kirchhof zur Messe und stellte seine Herrschaft damit sichtbar auf „heiligen Grund“. In Einzelfällen wie in Goslar, Marburg und Luzern befand sich das älteste Rathaus der Stadt sogar im Beinhaus (Karner) des Kirchhofs, was die Besonderheit der Örtlichkeit zusätzlich unterstrich.
Wurde das Rathaus ursprünglich als Kaufhaus genutzt, waren im Untergeschoss und Keller oft Verkaufsstände und Lagerräume zu finden. Zur Marktseite hin gab es dann eine Vorhalle, die nach außen geöffnet war und die Marktstände zugänglich machte. Diese geöffnete Halle oder „Laube“ diente dem Rat ebenfalls als Versammlungsort bei Entscheidungen, die eine gewisse Öffentlichkeit erforderten. Dies konnte bei Beratungen zum Marktrecht oder zur städtischen Steuer erforderlich sein, genauso wie bei Sitzungen des städtischen Ratsgerichts. Der Keller konnte in späterer Zeit als Gefängnis oder Taverne genutzt werden.
Dagegen war das erste Geschoss Ort für Verwaltungszwecke und politische Handlungen. Dort befand sich eine große Diele oder ein großer Saal, der als Versammlungsort der Bürgerschaft diente. Entsprechend dieser Funktion als Versammlungsort erscheinen Rathäuser oft erstmals als „prätorium“ oder sogar „theatrum“ in den Quellen. In den frühen mittelalterlichen Rathäusern wird der Ratssaal der zentrale Raum für alle Tätigkeiten des Rates gewesen sein: Dort stand das Ratsgestühl, in dem die Ratsherren bei ihren wöchentlichen Beratungen Platz nahmen, dort fanden regelmäßige politische und feierliche Veranstaltungen statt, dort wurde bei wichtigen Hochzeiten getanzt und auch Gericht gehalten. Den Saal als einen Ort der städtischen Öffentlichkeit richtete sich der Rat besonders repräsentativ ein. Er wurde kunstvoll mit Schnitzereien und Malereien ausgestattet. Im Saal sollten der Reichtum und die Bedeutung, besonders aber die Eigenständigkeit einer Stadt zum Ausdruck gebracht werden. Dies geschah u.a. durch das Ratssilber, das an diesem Ort zu besonderen Gelegenheiten gezeigt wurde. In den Städten der Hanse schmückten Modelle prächtiger Schiffe den Rathaussaal, um die Bedeutung der wohlhabenden Städte im Handel zu unterstreichen (z.B. Bremen, Hamburg und Münster). Darüber hinaus präsentierte man oft alte, besonders beeindruckende Waffen und Schilde, die den Besucher an die Wehrhaftigkeit der Stadt erinnern sollten.
Zum Raumprogramm eines jeden Rathauses gehörte der Gerichtsort, denn der städtische Rat hatte zumindest die niedere, d.h. die zivile Gerichtsbarkeit inne. In wenigen Fällen, v.a. im 15. Jh., besaß der Rat einer Stadt auch die hohe oder Blut-Gerichtsbarkeit, durfte also im Strafprozess über Leben und Tod entscheiden. In diesem Fall hatte der Rat zusätzlich das Recht, vor der Stadt einen Galgen zu errichten. Die Weltgerichtsdarstellungen, die als Ölgemälde oder Wandmalereien zur Ausstattung der Rathäuser gehörten, sind somit als Kennzeichen des Gerichtsortes anzusehen. Diese Bilder zeigten an, wo der Rat Recht sprechen konnte. Der Ort der ratsherrlichen Rechtsprechung war ursprünglich die „Laube“ vor dem Rathaus, die eine bestimmte Öffentlichkeit gewährleistete. Später lag der Gerichtsort, oft abgetrennt durch Gerichtsschranken aus Holz, im Ratssaal oder in der Ratsstube. Hatte der Rat die volle, d.h. niedere und hohe Gerichtsbarkeit inne, wurden zwei verschiedene Orte („Laube“ und Ratssaal) genutzt. In der Frühen Neuzeit gab es deswegen neben der Ratsstube oftmals noch eine Gerichtsstube in direkter Nachbarschaft.
Fast jedes Rathaus hatte darüber hinaus eine Ratskapelle. Vor jeder der wöchentlichen Ratssitzungen kam der Rat dort zusammen, um die Messe zu hören. Das Patronat der Kapelle lag beim Rat, der auch die zugehörige Vikarie besetzte. Die Ratskapelle mit ihren Reliquien lag meist in direkter Nachbarschaft zur Ratsstube oder war Teil des Ratssaals. Sie verlieh dem Amt und dem Handeln der Ratsherren eine zusätzliche sakrale Unterstützung und war gleichzeitig Schreibstube, Archiv und Ort wichtiger politischer Ereignisse und Beratungen. In der Frühen Neuzeit wurden für Schreibstube und Archiv getrennte Räume eingerichtet, da sich die kommunale Verwaltung immer weiter ausdifferenzierte.
Parallel zum Selbstverständnis des Rates, der sich seit Ende des 15. Jhs. zunehmend als „Herr der Stadt“ begriff, wurden die Rathausbauten immer prächtiger gestaltet. Als erstes sichtbares Zeichen erhielten einige Rathäuser bereits Ende des 15. Jhs. repräsentative Freitreppen. Nach der Reformation, die den Räten protestantischer Städte auch im religiösen Bereich zentrale Rechte verschaffte, statteten wohlhabende Kaufmannsstädte wie Amsterdam, Bremen und Brügge die Außenfassaden ihrer Rathäuser zu Beginn des 17. Jhs. mit prächtigen Bildprogrammen aus.
Antje Diener-Staeckling (1.9.2014)