Gottes Strafe – Gottes Gnade
Zur baulichen und bildlichen Bewältigung der großen Pest von 1629-31 in Venedig
Von Kunsthistoriker Dr. Jens Niebaum
Religion kommt in der Vormoderne im gesellschaftlichen Umgang mit epidemischen Ereignissen die Rolle einer janusgesichtigen Ressource zu. Auf der einen Seite wird sie bemüht, Erklärungsmuster für das Auftreten der Seuche bereitzustellen. Diese erscheint kaum anders denn als Strafe Gottes denkbar, entsprechend dem biblischen Bericht (2. Sam. 2; 1. Chr. 21), wonach Gott den Hochmut des Königs David dadurch sanktionierte, daß er eine dreitägige Pest über Israel kommen ließ. In der Frühen Neuzeit waren es eher alltägliche Laster wie Völlerei, ‚Zügellosigkeit‘ und – ein Klassiker – mangelnde Sonntagsheiligung, die als Ursachen von Gottes „gerechtem Zorn“ ausgemacht und in Bußpredigten und Abhandlungen wortreich beklagt wurden. Folglich ist, daran lassen die obrigkeitlichen wie kirchlichen Ver-lautbarungen keinen Zweifel, die Besänftigung des erzürnten Herrn der einzige Weg, das Übel dauerhaft zu überwinden – unbeschadet der Tatsache, dass man ein zunehmend ausdifferenziertes Instrumentarium an Maßnahmen entwickelte, die Ausbreitung der Seuche soweit wie möglich einzudämmen (s. etwa die Beiträge des Dossiers „Vorkehrungen und Regeln“).
Neben dem Begründungsmuster für die Strafe, deren Berechtigung zumindest in institutionellen Textquellen nicht in Zweifel gezogen wurde, stellte die Religion mit der für den christlichen Glauben konstitutiven Verheißung von himmlischem Heil und göttlicher Barmherzigkeit freilich auch eine genuine Ressource der Hoffnung bereit – auf Überleben und Besserung für die einen oder zumindest auf Verschonung vor Verdammnis und Fegefeuer für die anderen (s. dazu auch den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf). Wie artikulierte sich diese Hoffnung auf gegenwärtiges Erbarmen und künftige Verschonung in baulichen und bildlichen Zeugnissen sowie im Umgang mit ihnen? Als Beispiel seien einige Schlaglichter auf die Bewältigung der verheerenden Pestepidemie in Venedig herausgegriffen, der zwi-schen 1629 und 1631 ca. 42.000 Einwohner, knapp ein Drittel der Bevölkerung, zum Opfer fielen.
Schon unmittelbar nach dem Ausbruch der Seuche wurde ein breites Spektrum liturgischer und paraliturgischer Formate aktiviert, um den Beistand Gottes und seiner Heiligen zu erlan-gen: Dazu gehörten Aussetzungen und Anbetungen der Eucharistie in der Kathedrale und in der ‚Staatskirche‘ San Marco, Fast- und Bußtage sowie feierliche Gebete bei den Gebeinen des Pestheiligen Rochus sowie des sel. Lorenzo Giustiniani, des ersten Patriarchen von Venedig, dessen Reliquien zudem in Prozessionen herumgeführt wurden. Sie wurden gemäß katholischer Lehrauffassung angefleht, ihre schon mehrfach als wirksam erwiesene Fürbitte für die Bewahrung der Stadt und die Befreiung des Staates von der Krankheit vor Gott zu bringen – dem Seligen wurde dabei als Gegenleistung versprochen, sich künftig in Rom für seine Heiligsprechung zu verwenden. Um auch auf Erden die geistliche Versorgung der Menschen sicherzustellen, verpflichtete der Patriarch der Serenissima den lokalen Klerus, den Pestkranken Beistand zu leisten und die eigene Gemeinde nicht im Stich zu lassen – widrigenfalls drohte der Entzug der Pfründen. Leuchtendes Vorbild war der Mailänder Erzbi-schof Karl Borromäus, der während der katastrophalen Epidemie in seiner Stadt von 1576 den Sterbenden im Lazarett eigenhändig das Sakrament gereicht hatte. Die Szene, die den Kardinal als unbeugsamen Helden, meist im bischöflichen Ornat unter den Kranken und Sterbenden zeigt, wurde nicht umsonst immer wieder dargestellt: Sie zeigte, wie ernst der Klerus seit dem Reformkonzil von Trient seine Aufgabe als Seelsorger nahm (s. für ein verwandtes Beispiel den Beitrag von Eva Krems im Dossier ‚[Un-]Sichtbarkeiten‘).
Die nachhaltigste Maßnahme gegen die Seuche war aber 1630 das berühmte Gelübde, mit dem der Doge im Namen der Regierung der Serenissima versprach, der Muttergottes eine prachtvolle Kirche („magnifica e con pompa“) zu errichten und sie alljährlich zur Wieder-kehr des Tages, an dem die Stadt pestfrei erklärt werden würde, mit einer feierlichen Prozession aufzusuchen. Erklärtermaßen wird dabei an die Erfahrungen von der letzten großen Epidemie von 1576 angeknüpft, die erloschen war, nachdem man den Bau einer dem Erlöser geweihten Kirche gelobt hatte. Andererseits nimmt man auf das seit der – auf den Verkündigungstag des Jahres 421 datierten – Stadtgründung erprobte besondere Schutzverhältnis der Madonna gegenüber Venedig Bezug, das sich selbst als Tochter Marias konzipierte; entsprechend wurde der Verkündigungstag des Jahres 1631 als Tag der Grundsteinlegung ausgewählt (auch wenn das Ereignis wegen Regens dann um eine Woche verschoben werden muß-te). Eine solche ‚Vereinnahmung‘ Marias durch die jeweilige Herrschaft war in katholischen Ländern alles andere als ungewöhnlich; sie diente einerseits der Legitimierung und Stabilisierung staatlicher Autorität, was sich aber insofern auf eine genuin religiöse Ressource stützte, als Maria seit Jahrhunderten die Rolle der wichtigsten Interzessorin, ja der Mit-Erlöserin zugeschrieben wurde, für deren Lobpreis ein umfangreiches Repertorium an Frömmigkeitsformen und Verehrungsformaten bereitstand.
Die zwischen 1630 und 1687 nach Entwürfen des jungen Architekten Baldassare Longhena errichtete Kirche ist der Madonna della Salute geweiht, womit körperliche Gesundheit und seelisches Heil gleichermaßen gemeint sein können. In schlechthin unvergleichlicher Lage auf der Landzunge zwischen Canale della Giudecca und Canal Grande situiert, beherrscht sie die Einfahrt in Venedigs wichtigste Wasserstraße und begleitet sie zugleich durch die ‚Aussendung‘ mehrerer Raumachsen (Abb. 1). Als eines der berühmtesten und markantesten Wahrzeichen der Stadt bildet sie eine Erinnerung an die schwere Bestrafung, vor allem aber ein triumphales Monument des Beistandes, den das Gemeinwesen dank der Fürbitte Marias letztlich zurückgewonnen hat. Ein Monument auch der besonderen Beziehung Venedigs zur Hauptfürbitterin und damit eines privilegierten Zugangs zu Gott, auf den sie sich auch in extremer Not letztlich verlassen kann. Als Stiftung der Regierung und durch die alljährlich mit großem Gepränge abgehaltene Prozession wächst ihr durch den mit dem Gelübde ver-bundenen Erfolg natürlich einerseits eine dezidiert herrschaftsstabilisierende Dimension zu, doch wäre es verfehlt, ihre Funktion auf den politisch-instrumentellen Aspekt reduzieren zu wollen. Das macht allein schon die Tatsache deutlich, dass es in den Jahren nach 1630 und bis ins 19. Jahrhundert hinein auch in zahlreichen anderen Kirchen Venedigs und des Veneto zu einem Kult der Madonna della Salute kam, der sich in der Gründung von Bruderschaften, der Stiftung von ex voti oder gar durch den Bau von Altären dieses Patroziniums dokumen-tierte. Der Staat wird hier als sakrale Gemeinschaft erkennbar, der letztlich allen Untertanen eine Heilsperspektive bietet und sie unter dem Schutz der Widmungsträgerin vereint.
Longhena begründet in einer Denkschrift von 1631 die Wahl der „forma di rottonda“ – der „runden Form“, hier der dem Kreis angenäherten Form eines gleichseitigen Oktogons – mit der Neuartigkeit eines solchen Kirchenbaus in Venedig, wie er hier von vielen gewünscht werde, aber ebenso mit ihrer Nähe zur Form einer Krone, da sie eben der Muttergottes ge-weiht sei („per esser dedicata a essa Vergine“). Wir wissen nicht, ob es tatsächlich die doch recht abstrakte Nähe des Baues zu einer Krone war, die den Entwurf konditioniert hat, oder ob nicht das Interesse an einem zentrierten Monumentalbau ausschlaggebend war. Typologische Parallelen zu mehreren Kirchen in Oberitalien scheinen eher für letzteres zu sprechen. Wichtig ist jedoch, daß Longhena davon ausging, seinen Entwurf mit dem Verweis auf das Attribut der Himmelskönigin bei seinen Auftraggebern plausibler machen zu können, und dieses Argument, wenn auch in Venedig nicht ohne Vorläufer, kann kaum unabhängig vom Entstehungsanlass der Kirche gesehen werden: Maria wurde in der venezianischen Litanei, die während der Pestprozessionen gesungen wurde, als Königin des Himmels angerufen, und auch die Zeremonien der Ablegung des Gelübdes sowie der Grundsteinlegung für die Votivkirche endeten jeweils mit dem Gesang des Salve Regina. Der traditionsreiche Bittgruß ruft Maria als „Königin, Mutter des Erbarmens“ („Regina, Mater misericordiae“) an – als Köni-gin des Himmels ist sie in besonderer Weise zur Fürbitte befähigt und damit wichtigster Zugang zur Hoffnung auf göttliche Barmherzigkeit.
Dementsprechend ist Maria als Himmelskönigin auch bildlich in prominenter Weise an bzw. in der neuen Marienkirche vertreten. Als solche erscheint sie mit ihrem Kind auf dem rechten Arm auf der Spitze des zentralen Giebels (Abb. 2). Rings um den Bau erscheinen auf den Voluten des Obergadens sowie an den Fronten der benachbarten Kapellen Kriegerheilige sowie Propheten und alttestamentliche Typen Marias, darunter mit Esther und Judith solche, die ihr Volk aus existentieller Gefahr befreit hatten; unter ihr verweisen Sibyllen und Evangelisten auf Kommen und Wirken des Heilands. Ein zentraler Bestandteil des Programms fehlt heute jedoch: Das Bogenfeld des riesigen Portals unter der Marienstatue besetzte einst ein großer Markuslöwe, das wichtigste Symbol der Serenissima. Wenn anläßlich der alljährlichen Gedenkprozession das Hauptportal geöffnet wurde, durch das der Doge und die übri-gen Repräsentanten des Gemeinwesens in die Kirche einzogen, stellte er just über der Schwelle den Bezug zum Adressaten ihrer Fürbitte und damit zum Anlass der Stiftung des Baues her. Auch die Laternen der beiden Kuppeln über Hauptraum und Sanktuarium stellen das privilegierte Verhältnis Venedigs zur Madonna heraus: Auf der großen Kuppel erscheint Maria mit Sternenkranz über der Mondsichel als Immaculata. Ihr entspricht auf der kleineren Kuppel eine Statue des wichtigsten Stadtpatrons, des hl. Markus.
Zu den eindrucksvollsten künstlerischen ‚Reaktionen‘ auf die Pest von 1629-31 zählt ferner ein Gemälde von Domenico Tintoretto (1560-1635) in der Klosterkirche der Franziskaner-Observanten, San Francesco alla Vigna. Es ist 1631 datiert, entstand also unmittelbar nach dem Ende der verheerenden Seu-che, und hat die Bitte Venedigs um die Interzession der Madonna zum Gegenstand. Das hochrechteckige Bild ist durch einen entrollten Rotulus leicht schräg in zwei Zonen geteilt. Unten kniet, begleitet von den betenden Halbfiguren zweier Stifterinnen, auf einem Betkissen die gekrönte Allegorie der Venetia im Orantengestus mit ausgebreiteten Händen; neben ihr liegt der Markuslöwe mit dem überschnittenen Titulus, der den Friedensgruß Christi an den Evangelisten und Stadtpatron formuliert. Im Hintergrund erblickt man die Fondamenta eines Rio, auf denen Tote liegen bzw. aus den Häusern getragen werden. In der oberen Bildhälfte kniet im Gewölk Maria fürbittend vor ihrem lichtumstrahlten Sohn, dessen Wundmahle deutlich erkennbar sind; als Ergebnis der Erhörung ihrer Interzession greift er in das Schwert, das ein Putto blank in die Höhe hält. Die Inschrift auf dem Band lautet in Übersetzung: „Bitte, ich bitte dich, deinen Sohn, dass er diese grausame Krankheit/Wunde heile, die uns verzehrt, und uns mit dem hohen Erbarmen zu Hilfe eile; sobald sein Zorn besänftigt ist, mögen die Sorgen ein Ende haben.“ Das Schriftband erweist sich damit nicht allein als optische Trennung beider Bildzonen, sondern macht als ‚gemalter Gebetstext‘ die Funktion der Bitte als Überbrückung der Barriere zwischen Dies- und Jenseits, zwischen irdischem Tränental und himmlischer Herrlichkeit überaus sinnfällig. Sinnfällig ist ebenso, wie markant der Fuß mit dem klar akzentuierten Stigma – das auf den eigentlichen Grund der menschli-chen Heilsperspektive in der Passion Jesu Christi verweist – über dem himmelwärts blickenden Haupt der Venetia, die Banderole leicht überschneidend, plaziert ist und dabei in engster Verbindung mit den Worten „figliol“ (‚Sohn‘, eigentlich ‚Söhnchen‘) für den eigentlichen Adressaten und „soccorra“ (‚er eile zu Hilfe‘) für den prädikativen Kern der Bitte situiert ist. Wenn Venedig, so wird hier suggeriert, ihr Heil in Christus und in der Unterstützung durch Maria sucht, so kann sie auf Beistand und Erbarmen bauen.
Noch einmal zurück zu Santa Maria della Salute. Hier wurde nach 1670 eine Skulpturen-gruppe grundsätzlich ähnlicher Thematik über dem Hochaltar plaziert (Abb. 3): Venetia kniet zur Rechten der stehenden Madonna della Salute mit dem Kind auf dem Arm, während zu deren Linker ein Putto die flüchtende Allegorie der Pest vertreibt. Sehr viel expliziter als in der eher andeutenden Form Tintorettos ist der positive Ertrag der Fürbitte also selbst ins Werk gesetzt (s. meinen Beitrag im Dossier „Bilder, Metaphern, Allegorien“). Die Stadtpatrone Markus und Lorenzo Giustiniani assistieren der Bitte des ihrem Schutz anvertrauten Gemeinwesens. Doch rahmen sie zugleich eine Marienikone, die als eigentliches Zentrum in das Altarretabel eingefügt ist. Es handelt sich um die sog. Mesopanditissa, die seit dem 14. Jahrhundert als angebliches Marienbild von der Hand des Evangelisten Lukas in der Kathed-rale des venezianisch-levantinischen Außenpostens Candia (Kreta) verehrt wurde und nach der Einnahme der Insel durch die Türken 1669 nach Venedig überführt wurde. Zuvor war bei den alljährlichen Prozessionen jeweils die hochverehrte, in San Marco aufbewahrte Ikone der Nikopoia zur Salute und wieder zurück getragen worden. Maria erscheint im byzantinischen Bildtypus der Hodegetria, als Brustbild in leichter Linkswendung, auf dem linken Arm das segnende Kind, auf das sie mit der rechten Hand verweist; in den oberen Ecken erahnt man die Erzengel Gabriel, den Verkündigungsengel, und Gabriel, den Seelenwäger. Maria weist auf Christus als den Weg zum Heil. 1670 ließ der Senat die Ikone in die Salute überführen, mit deren Entstehungsumständen sich ihre Ikonographie sowie die Geschichte ihrer ‚Erret-tung‘ der Ikone in der Tat unschwer in Beziehung setzen ließ, zumal die Parallelisierung von Pest und ‚Häresie‘ (und das heißt auch nichtchristlicher Bedrohung) eine lang erprobte Denkfigur darstellte. Während die über ihr plazierte Gruppe darstellte, wie Venedig in der existentiellen Krise 1630/31 Zuflucht zur Madonna gesucht und Erbarmen bei ihr gefunden hatte, so bot sich das bewährte Gnadenbild seinerseits als Fluchtpunkt für die Nöte des Gemeinwesens und die Hoffnung seiner Bürger auf göttlichen Beistand an.