In Gottes Hand
Daniel Defoes A Journal of the Plague Year Being Observations or Memorials, of the most Remarkable Occurrences as well Publick as Private, which happened in London during the last Great Visitation in 1665. Written by a Citizen who continued all the while in London. Never made publick before (1722)
Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)
So dokumentarisch und nah an den Geschehnissen Defoes „Journal“ erscheint, es handelt sich doch um einen fiktiven, 67 Jahre nach der Großen Pest, die Südengland und London in den Jahren 1665/66 heimsuchte, verfassten Text. Dieser Ausbruch der Seuche war eine der letzten große Pest-Epidemien in Europa mit rund 100.000 Todesopfern. Auch wenn Defoes Bericht eine nachträgliche, fiktive Darstellung ist, so hat er doch Quellen und Statistiken recherchiert und stellt den Eindruck unmittelbarer Augenzeugenschaft mit literarischen Mitteln her. Obwohl der Text, wie die Forschung herausgestellt hat, von einer skeptizistischen Grundhaltung geprägt ist und seinen Blick auf medizinische, politische und soziale Phänomene richtet, die im Sinne des aufgeklärten Rationalismus geschildert werden, gibt es doch auch zahlreiche religiöse Bezüge. Der Erzähler erweist sich als Vertreter eines rationalistischen Religionsverständnisses.
Der Erzähler berichtet, dass nach Ausbruch der Pest in London viele Menschen die Stadt verließen. Er entschließt sich nach langem Ringen mit sich selbst, in der Stadt zu bleiben. Erzählökonomisch muss das natürlich so sein, denn sonst könnte er seinen Bericht nicht verfassen. Die Entscheidung, mit der er im Laufe des Berichts immer mal wieder hadert, fällt indessen auch unter Bezugnahme auf Gott, der sich offensichtlich mit dem Ausbruch der Pest etwas gedacht hat.
It came very warmly into my Mind, one Morning, […] that as nothing attended us without the Direction or Permission of Divine Power, so these Disappointments must have something in them extraordinary; and I ought to consider whether it did not evidently point out, or intimate to me, that it was the Will of Heaven I should not go. It immediately follow’d in my Thoughts, that if it really was from God, that I should stay, he was able effectually to preserve me in the midst of all the Death and Danger that would surround me; and that if I attempted to secure my self by fleeing from my Habitation, and acted contrary to these Intimations, which I believed to be Divine, it was a kind of flying from God, and that he could cause his Justice to overtake me when and where he thought fit.1
Die Unterstellung einer göttlichen Absicht veranlasst auch das reflektierende Subjekt, sich seine Gedanken zu machen und Entschlüsse zu fassen. Man wundert sich tatsächlich, dass der Erzähler, der in der Folge durch die von Ansteckung und Tod heimgesuchte Stadt streift, um sich alles genau anzusehen, selbst von der Seuche verschont bleibt, und kann es sich tatsächlich nicht anders erklären, als dass sich das zitierte rationalistische Kalkül bewahrheitet. Der Erzähler hat somit für sein fiktionales Projekt den Willen und Begleitschutz Gottes auf seiner Seite!
Auf seinen Gängen durch die pestverseuchte Stadt sieht er leidende und von den körperlichen Zeichen der Pest gezeichnete Menschen, stapelweise Tote und Totengruben, in denen täglich Hunderte von Leichnamen verscharrt werden. Und er berichtet von infizierten Menschen, die sich selbst aus Qual und Verzweiflung in die ausgehobenen Massengräber stürzen – „it was indeed very, very, very dreadful, and such as no Tongue can express“ (70). Die Stadt ist aber auch voller Geschichten: So hat er von einem Mann gehört, der vor Schmerzen des Nachts zur Themse rannte, sich seines Nachthemds entledigte und zweimal die Themse durchschwamm, sich danach wieder in sein Bett legte – und auf diese Weise geheilt wurde. Jedoch berichtet er auch, dass sich viele im Delirium in die Themse stürzten und starben. 20.000 Menschen fielen in nur einer Woche dem Tod anheim, teilt der Erzähler mit. Defoes Text ist durchzogen von Tabellen über Todesfälle, die durchaus an Mitteilungen von Infektions- und Mortalitätszahlen erinnern, wie sie in der gegenwärtigen Corona-Epidemie verbreitet sind, z. B.:
[…] the Number in the Weekly Bill amounting to almost 40,000 from the 22nd of August, to the 26th of September, being but five Weeks, the particulars of the Bills are as follows, (viz.)
From August the 22nd to the 29th 7496
To the 5th of September 8252
To the 12th 7690
To the 19th 8297
To the 26th 6460
38195 (159).
Auch werden Verordnungen der Londoner Stadtregierung wiedergegeben, die an gegenwärtige Maßnahmen des Krisenmanagements denken lassen, wie beispielsweise Quarantänebestimmungen, Meldepflicht von Krankheitsfällen oder das Verbot von Feiern (vgl. auch das Dossier VORKEHRUNGEN UND REGELN). Obwohl er das Krisenmanagement der Stadt London insgesamt lobt, übt der Erzähler auch Kritik, etwa an der Maßnahme, Häuser schließen und bewachen zu lassen, da die Verordnung dazu führte, dass Pestkranke nicht mehr in ihre Häuser durften und in den Straßen bleiben mussten statt in ihren Betten sterben zu können. Auch bemängelt er, dass eine so große Stadt wie London nur über ein einziges Pesthaus verfügte. Kontrapunktiert wird der bilanzartige Gestus von Defoes Journal durch eine Vielzahl von Geschichten über Einzelfälle und Anekdoten sowie durch bisweilen geradezu dramatisch gestaltete Dialoge zwischen einzelnen Figuren, auf die er trifft.
Über allem aber waltet „the Hand of God“ (49, 74, 163 passim), die wohl am häufigsten gebrauchte Metapher im Text. Die Hand Gottes gibt und nimmt (vgl. dazu auch den Beitrag von Jens Niebaum in diesem Dossier). Defoes Erzähler berichtet aber auch, wie diejenigen, die an der Rationalität Gottes zweifeln, sich dem Aberglauben und magischen Praktiken ergeben. Die Einbildungskraft der Menschen, so erzählt er, spielte verrückt. Sekten entstanden, der Teufelsglaube blühte ebenso wie die Astrologie. Von sich selbst sagt er, dass er sich nicht ganz frei von dem verbreiteten Glauben hätte machen können, demzufolge die Erscheinung zweier Kometen „as the Forerunners and Warnings of God’s Judgements“ (39) erschienen. Die Menschen versuchten, das Übel durch magische Zeichen zu bannen, wie etwa
Auch weiß er zu berichten, dass viele begannen, Gott zu lästern, während andere weiterhin getreulich die Gottesdienste besuchten, sofern sie überhaupt noch stattfanden. Er selbst kritisiert Geistliche, die in ihren Predigten den Menschen Sündenangst einjagten, und verweist stattdessen auf Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Eben dieses Gottvertrauen legitimiert ihn als narrativen Führer durch das Londoner Pestelend. Obzwar er der Arbeit der Ärzte, die ihr Leben im Dienst an den Kranken aufs Spiel setzten, Respekt zollt, muss er aber doch feststellen, dass sie gegen „God’s Judgement“ und das „Distemper eminently armed from Heaven“ (51) im Grunde nichts ausrichten konnten.
„However it pleas’d God by the continuing of the Winter Weather to restore the Health of the City, that by February following, we reckon’d the Distemper quite ceas’d“ (206), heißt es schließlich. Wie in anderen literarischen Seuchenerzählungen geht es dann ganz rasch, dass Erkrankte wieder gesunden. Offensichtlich sind Heilungsprozesse erzählerisch weniger ergiebig als die dramatische Entwicklung einer sich ausbreitende Seuche. Dem Chronisten bleibt trotz allen Leids und Elends, das er durchwandert hat und über das er berichten musste, am Schluss nichts, als Gott für dafür zu danken, dass er die Seuche beendet hat. Und so schließt der Text fast heiter:
A dreadful Plague in London was,
In the Year Sixty Five,
Which swept an Hundred Thousand Souls
Away: Yet I alive! (211)