Gottes Strafe - Gottes Gerechtigkeit?
Zur „Multimodalität“ religiöser Deutungen von Epidemien in Afrika
Von Ethnologin Prof. Dr. Dorothea Schulz
Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bevölkerungen einer wachsenden Anzahl afrikanischer Länder einer dritten Welle der Infektion mit dem Coronavirus, dieses Mal in Form noch gefährlicherer Varianten ausgesetzt sind, konkurrieren dort nach wie vor unterschiedliche Deutungen dieser Epidemie. Religiöse, wissenschaftliche, verschwörungstheoretisch-politische und esoterische Interpretationen zirkulieren zeitgleich, überlappen und inspirieren sich teilweise und weisen unterschiedliche Grade der Instabilität und Innovationsfähigkeit auf. Sie stellen keine kohärenten und stabilen Interpretationsschemata dar, sondern operieren als „multimodale“ Diskurselemente. Beispielsweise verbanden sich in Mali in den ersten Monaten der Epidemie Deutungen der Krankheit als gerechte Bestrafung verwestlichter, korrupter Eliten mit lokalen Legitimitätsdiskursen und auch mit verschwörungstheoretischen Ansätzen, die Corona als „Finte“ einer Regierung brandmarkten, die nur darauf aus sei, Gelder von internationalen Hilfsorganisationen abzugreifen. Zugleich nahmen - und nehmen - diejenigen religiösen Führer, die dort den „Bestrafungsdiskurs“ favorisierten, für sich in Anspruch, dass ihre eigene Rechtsgläubigkeit und Verbundenheit mit traditionellen Werten auch ihren Anhängern zum Schutz gereiche, weshalb diese die regulären Schutzmaßnahmen nicht befolgen müssten. Diese spezifische religiöse Interpretation der Ursachen für die Covid-19 Pandemie war und ist also eng an einen Diskurs zu Rechtsgläubigkeit und kultureller Authentizität gebunden.
Moschee, Kirche, christliches Gebet (Kenia)
Welche dieser Interpretationen oder auch Rekombinationen verschiedener interpretativer Elemente sich in einem Land oder einer Region jeweils durchsetzen, und wie stark beispielsweise der Diskurs einer göttlichen Strafe vorherrscht, hängt weniger von vorgeblich eingefleischten kulturellen oder religiösen Vorstellungen und der „Traditionsgebundenheit“ lokaler Gesellschaften ab. Vielmehr sollten – ähnlich wie im aktuellen Europa und Nordamerika – die Deutungen und ihre Durchsetzungsfähigkeit als Spiegelungen der Erfahrungen, die diese Menschen im Umgang mit staatlicher Regulierung des religiösen Lebens und der Organisation des Gesundheitswesens gesammelt haben, interpretiert werden.
Beispielsweise speisen sich die Sichtweisen auf die Corona-Epidemie, die Menschen in ländlichen Gebieten in Sierra Leone, Liberia und Guinea artikulieren, aus ihren belastenden Erfahrungen mit der Ebola-Epidemie in den Jahren 2014-2016, Erfahrungen, die durch die stigmatisierenden Effekte staatlich verordneter und oft durch internationale Organisationen implementierter, medizinischer Isolierungsmaßnahmen und das Verbot von Bestattungsritualen verschärft wurden. Ob momentan religiöse Erklärungen für die Ursachen der Corona-Epidemie, im Sinne einer Strafe oder der Gerechtigkeit Gottes, in diesen Ländern vorherrschen oder nicht, hängt in erheblichem Maße davon ab, ob religiöse Akteure und Netzwerke in der damaligen Situation überzeugende Deutungs- und Handlungsangebote machten und sich dadurch als glaubwürdigere Alternative zu staatlichen Akteuren bewiesen. Auch die Interpretation selbst, d.h. ob beispielsweise Corona als gerechte Bestrafung für die Übernahme westlicher kultureller Werte und Lebensstile interpretiert wird oder nicht, hängt davon ab, ob religiöse Akteure ihre Mobilisationsmacht und bestehende gesellschaftliche Freiräume dazu nutzen, sich als moralische Alternative zur mangelnden Legitimität staatlicher Institutionen und Akteure darzustellen, oder ob sie, in staatliche Strukturen integriert, kombiniert religiös-wissenschaftliche Deutungen anbieten.
Ein bemerkenswertes Beispiel für Letzteres, und für die Mobilisierungs- und Überzeugungskraft religiöser Netzwerke, lieferten in den 1980er und 1990er Jahren die Führer vieler religiöser Gemeinschaften – Imame, Sheikhs, Pastoren, Bischöfe und auch ein Rabbi – in Uganda, deren staatlich kontrollierte Informationskampagnen bis hin zur Dorfebene einen Schlüsselfaktor in der erfolgreichen Bekämpfung des HIV-Virus in Uganda darstellten. Dass andererseits sehr spezifisch zugespitzte Interpretationen von Epidemien als Gottes Strafe ein enormes Protestpotential entwickeln können, zeigen neuere Entwicklungen in Mali. Hier spielten Deutungen von Corona als Bestrafung der Ungläubigen, die seit März 2020 kursierten, eine nicht unerhebliche Rolle im stark religiös eingefärbten Protest gegen den damals amtierenden Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita und seinem Sturz im August 2020. Dass sich aber genau diese religiösen Deutungen durchsetzen konnten, hing, wie bereits besprochen, von komplexen sozio-politischen Konstellationen und institutionellen Rahmenbedingungen ab. Hieraus folgt unter anderem, dass sich an den in einer Gesellschaft vorherrschenden, religiösen oder nicht-religiösen Erklärungen für die Ursachen einer Epidemie, nicht einfach der Säkularisierungsgrad dieser Gesellschaft ablesen lässt.