Wenngleich in dieser Lerneinheit der metrischen Analyse das Haupt- augenmerk geschenkt wird, sei an dieser Stelle kurz auf eine auffällige inhaltliche Besonderheit der Waisenzeile in der zweiten Strophe eingegangen.
Bei dieser Waisenzeile wird ein bemerkenswertes Zusammenspiel von Form und Inhalt deutlich. Offensichtlich wählte Walther diese allein- stehende, nicht-reimende Zeile 'Philippe setze den weisen ûf' (v. 24) sehr bewusst, um das bedeutungsschwere Wort 'weise' (nhd. Waise) zu platzieren. Der „Weise“ ist ein singulärer Edelstein in der Reichskrone, dem magische Kräfte nachgesagt wurden. Er steht als pars pro toto für die Krone selbst.
Unter anderem zeigt sich hier Walthers Verständnis von Literatur als Medium zur politischen Einflussnahme. (Interessant ist auch, welche Aussagen Walther in den Waisenzeilen der anderen Reichston-Strophen formuliert.)
Auch unter dem Aspekt der Zahlensymbolik entpuppt sich Walthers ›Reichston‹ bei genauer Untersuchung als exakt konstruiertes Kunstwerk. Auf diesen Gesichtspunkt werden wir im Kapitel Metrik und Zahlen (Kap. 3.2) noch genauer eingehen.