Mit dem Wissen aus den vorangegangen Abschnitten können Sie nun auch fast die gesamte zweite Strophe des ›Reichston‹ selbstständig analysieren. Nur noch für den ersten Vers sind Erläuterungen notwendig. Drucken Sie dafür bitte die zweite Strophe hier aus.
Dass es bisweilen konkurrierende Möglichkeiten bei der metrischen Analyse von Einzelversen gibt, zeigt sich am ersten Vers der zweiten Strophe. Führt man nämlich das Verfahren der Ekthlipsis durch, so gelangt man zu einer anderen Lösung als bei der Annahme einer gespaltenen Senkung. Diese beide metrischen Phänomene lernen Sie nun kennen.
Gehen Sie zunächst wie gewohnt vor und lesen Sie sich den ersten Vers laut vor:
1 Ich hôrte diu wazzer diezen
Das Verteilen der Betonungszeichen sollte kein Problem für Sie darstellen:
o o o 1 Ich hôrte diu wazzer diezen r ° t x x° t r ° t r °
Anhand der metrischen Umschrift können Sie erkennen, dass auf einen unbetonten Auftakt ('Ich') ein mit drei Silben überfüllter Takt ('hôrte diu') folgt. Es ist in diesem Fall nicht möglich, eine gespaltene Hebung anzusetzen, da der Betonungsvokal lang und zudem durch Konsonant gedeckt ist. Um eine korrekte metrische Umschrift erhalten, stehen dem Metriker in diesem Falle zwei Möglichkeiten zur Verfügung: 1.) die Durchführung einer Ekthlipsis oder 2.) das Ansetzen einer sog. gespaltenen Senkung. Zulässig sind beide Möglichkeiten, aus metrischer Hinsicht eleganter ist wohl die Ekthlipsis, da durch sie der alternierende Rhythmus entsteht. Bei einer Ekthlipsis kommt es zur Auslassung eines unbetonten, auslautenden Vokals zwischen homorganen Konsonanten (wie hier zwischen /t/ und /d/). In unserem Beispiel kann also das auslautende /e/ von hôrte ‚geschluckt‘ werden, so dass hôrte diu wie hôr(t)diu gesprochen und so die überschüssige Silbe ausgespart wird:
o o o 1 Ich hôrtẹ diu wazzer diezen r ° t r ° t r ° t r°
o o o 1 Ich hôrte diu wazzer diezen r ° t q q° t r ° t r°
Mittelhochdeutsche Verse lassen nicht selten mehrere metrische Lesungen zu! |