Sie haben jetzt die dritte Strophe des ›Reichston‹ Walthers von der Vogelweide metrisch analysiert. Wie Sie gesehen haben, sind die Verse des ›Reichston‹, bis auf die letzten drei, jeweils durch Endreim paarweise miteinander verbunden (aa bb cc etc.). Wir werden uns nun etwas intensiver mit dem Klangbild befassen, welches die ersten drei Verse dieser Strophe im Zusammenspiel ergeben. Sie sollten diese einmal im Zusammenhang laut lesen:
o o o 1 Ich sach mit mînen ougen r ° t r ° t r ° t r ° o o o 2 mannẹ und wîbe tougen, ° t r °t r° t r ° o o o o 3 dâ ich gehôrte und gesach, r°t r°t r° t r°t ^ °
Eine metrisch orientierte Lesung können Sie sich hier anhören:
Betrachtet man das Zusammenspiel von Metrik und Semantik, d. h. die Bedeutung jener Wörter, die durch die Betonung hervorgehoben werden, dann wird deutlich: Im ersten Vers werden die sinntragenden Wörter 'sach', 'mînen' und 'ougen' metrisch betont; die im Auftakt stehende Person ('Ich') bleibt ohne Akzent. Geschlossen wird der erste Vers von einer weiblichen Kadenz. Der zweite Vers beginnt ohne Auftakt mit dem Nomen 'mánne'. Weitere betonte Wörter sind 'wîbe' und das Reimwort 'tóugen', sodass auch in diesem Vers die semantisch wichtigen Wörter durch die Metrik hervorgehoben werden.
Der regelmäßige Wechsel von Hebungen und Senkungen, also der alternierende Rhythmus, wird beim Übergang zwischen den ersten beiden Versen nicht durchbrochen, auf die letzte unbetonte Silbe des ersten Verses folgt eine betonte Silbe im zweiten Vers (... óugen / mánne ...). Das heißt, diese Verse fügen sich regelmäßig bzw. alternierend aneinander. Dieses Phänomen nennt man mit einem Begriff aus der antiken Metrik Synaphie, auf Deutsch spricht man von gefugten Versen.
Betrachten sie nun den Übergang vom zweiten zum dritten Vers, dann werden Sie feststellen, dass auf die letzte unbetonte Silbe des zweiten Verses ein Auftakt im dritten Vers folgt. Bei diesem Versübergang folgen also zwei unbetonte Silben (... tóugen / dâ ích ...) aufeinander: Der alternierende Rhythmus ist an dieser Stelle unterbrochen, die Verse sind ungefugt, dieses Phänomen nennt man Asynaphie.
Eine zweite Variante der Asynaphie findet sich im Übergang vom elften zum zwölften Vers:
o o o o 11 dâ was ein nôt vor aller nôt, r° t r° t r °t r° t ^ ° o o o o 12 lîp und sêle lag dâ tôt. °t r °t r°t r°t ^ °
Eine metrisch orientierte Lesung können Sie hier anhören:
Wie Sie sehen können, treffen hier zwei Hebungen am Ende des elften und am Beginn des zwölften Verses ohne dazwischenliegende Senkung aufeinander (... nôt / lîp ...), d. h. im Versübergang zwischen diesen beiden Hebungen steht kein Fugenelement. Auch diese Verse sind also ungefugt.
Fugungen und Nichtfugungen können durchaus ein Mittel der syntaktischen Gliederung und der inhaltlichen Hervorhebung versübergreifender Aussagen sein und dienen der Variation des sonst auf Dauer vielleicht etwas monoton wirkenden Wechsels von Hebungen und Senkungen.
Die Fugung der Verse 1/2 im alternierenden Rhythmus unterstreicht deren Charakter als geschlossener Hauptsatz, die Asynaphie im Übergang zu Vers 3 betont dessen Funktion als angehängter Nebensatz.
Im Übergang der Verse 11/12 setzt die Asynaphie einen eher inhaltlichen Nachdruck. Walther beschreibt mit mehreren einsilbigen Wörtern sehr verdichtet, fast stakkatohaft, die Notlage der Christenheit.
Bevor Sie nun in die selbstständige Analyse der ersten Strophe des ›Reichston‹ einsteigen, halten wir noch einmal fest:
Auch versübergreifende Phänomene (Synaphie/ Asynaphie), die das syntaktische Gefüge unterstützen und Sinnstrukturen hervorheben können, sind bei der metrischen Analyse zu berücksichtigen! |