Lesen Sie bitte ganz unbefangen mit lauter Stimme den Eingangsvers der dritten Strophe des ›Reichstons‹:
1 Ich sach mit mînen ougen
Zur Unterstützung können Sie hier eine geschulte Sprecherin hören:
Die höfische mittelhochdeutsche Metrik folgt in aller Regel der natürlichen Wortbetonung, das heißt, es finden keine Tonbeugungen statt. Daher ergibt sich fast zwangsläufig folgende Betonung:
o o o
1 Ich sach mit mînen ougen
mit einem regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung. Um die Metrik eines Verses noch genauer beschreiben zu können, trägt man unter den Vers für jede Sprechsilbe ein r ein (Diphthonge [uo, eu, ie, üe, ou, ei] sind niemals zweisilbig!):
o o o 1 Ich sach mit mînen ougen r r r r r r r
Dann überträgt man die Akzentzeichen auf das jeweilige Silben- symbol:
o o o 1 Ich sach mit mînen ougen r t r t r t r
Schließlich fügt man die Taktstriche ein, wobei darauf zu achten ist, dass jeder Takt mit einer Betonung beginnt und im Normalfall über zwei Elemente verfügt:
o o o 1 Ich sach mit mînen ougen r ° t r ° t r ° t r °
Man sieht, dass hier am Versbeginn ein Auftakt vorliegt, der keinen vollständigen Takt repräsentiert und somit vorne auch nicht durch einen Taktstrich geschlossen wird. Im Versinneren findet sich über drei Takte hinweg (inklusive Kadenz) ein regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung °t r°, d.h. ein alternierender Rhythmus.
Die hier angenommene Kadenz °t r°, bestehend aus einer Hebung und einer Senkung, nennt man, wie eingangs (Kapitel 3.1) bereits erwähnt, weiblich.
Damit ist die metrische Analyse des ersten Verses der dritten Strophe von Walthers ›Reichstons‹ abgeschlossen.