Gestützt auf das biblische Wort, nach dem Gott die Schöpfung nach Maß, Zahl und Gewicht gestaltet hat (Sap. 11,21), kam der Zahl nach mittelalterlicher Vorstellung eine grundsätzliche Bedeutung zu. Entsprechend kann damit gerechnet werden, dass bei einem Text wie dem ›Reichston‹, in dem Zahlen explizit genannt werden, Zahlen oder Zahlenkombinationen nicht nur die Bauform, sondern auch die Bedeutung des Textes betreffen.
Nach verschiedenen Ansätzen in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, die das Thema "Zahlen und Zahlensymbolik" größtenteils in Bezug auf epische Texte beleuchteten und – aufgrund der in Handschriften unfesten Gliederung der Werke – kaum brauchbare Ergebnisse hervorbrachten, ebbte das Interesse an diesem Themengebiet bald wieder ab. Aufgrund der nur spärlichen Ergebnisse schenkte man fortan auch den strophischen Texten des Mittelalters unter dem Aspekt der Zahlensymbolik kaum mehr Beachtung. Dabei finden sich gerade in diesem sehr viel überschau- bareren Bereich durchaus Beispiele, in denen das Spiel mit Zahlen und deren Bedeutung auffällig ist.
Widmen wir uns noch einmal Walthers von der Vogelweide ›Reichston‹: Bei der Erläuterung der zweisilbig klingenden Kadenz haben wir bereits angesprochen, dass Walther in seinem Werk offenbar überaus geschickt mit der Symbolik von Zahlen spielt. Sehen wir einmal genauer hin:
Jede Strophe besteht aus elf Reimpaaren und einer Waisenterzine. Neben der 11, die in der mittelalterlichen Zahlendeutung negativ bewertet ist und für Gesetzesüberschreitung und Unvollkommenheit steht, enthält die Strophe die positiv zu deutenden Zahlen 1 (Waise), 2 (Reimpaare) und 3 (Waisenterzine). Insgesamt besteht jede Strophe aus 25 Versen, was bei 4 Hebungen pro Vers zur Zahl 100 führt. Die Zahl 100 gilt als Zahl der Vollkommenheit und Ordnung. Walther spricht also in seinem ›Reichston‹ nicht nur von einem anzustrebenden Ideal, sondern er versteckt dieses auch in Form der 100 Hebungen in seinen Strophen. Gleichzeitig realisiert er mit den elf Reimpaaren aber auch die Unordnung, die er anprangert. Den Gegensatz von Ideal und schlechter Wirklichkeit, den sein ›Reichston‹ behandelt, setzt Walther in Form von Zahlen in seinem Werk also auch metrisch um.
Übrigens beweist Walther auch in seinem ›Palästinalied‹ sein Geschick beim Spiel mit Zahlen. Offensichtlich ist hier, dass die Zahl 7 von besonderer Bedeutung ist. In der ältesten Handschrift A besitzt das ›Palästinalied‹ sieben Strophen, die jeweils wieder aus sieben Versen bestehen. In der Fassung C liegen zwischen der 1. und der 9. Strophe, d. h. dem Anfang und dem Ende, sieben Strophen. Inhaltlich zeichnet das ›Palästinalied‹ die sieben Stationen des Leben Jesu nach: Geburt, Taufe, Passion, Höllenfahrt, Auferstehung, Himmelfahrt und Jüngstes Gericht.
Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Thema vgl. Ernst Hellgardt: Zum Problem symbolbestimmter und formalästhe- tischer Zahlenkomposition in mittelalterlicher Literatur. Mit Studien zum Quadrivium und zur Vorgeschichte des mittelalterlichen Zahlendenkens. München: 1973.
Weiterführende Literatur:
Heinz Meyer, Rudolf Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlen- bedeutungen. München 1987.
Volker Schupp: Septenar und Bauform. Studien zur "Auslegung des Vaterunsers", zu "De VII Sigillis" und zum "Palästinalied" Walthers von der Vogelweide. Berlin 1964.