Festungsstadt
Festungsstädte sind ein spezifisch (früh-)neuzeitlicher Stadttyp. Im Gegensatz zur Stadt des Mittelalters, deren Befestigung weitgehend eine defensive, rein lokale Funktion aufwies, besaß die (früh-)neuzeitliche Festungsstadt eine überörtliche strategische Bedeutung, die sich zum einen in ihrer Verteidigungsfunktion für eine Region, zum anderen in ihrer Eigenschaft als Waffen- und Depotplatz für eine offensive Kriegsführung ausdrückte. Ein zentrales Kennzeichen dieses Stadttypus ist somit die Funktionalisierung der Stadt durch den (früh-)neuzeitlichen Fürstenstaat. Die Zuweisung entsprechender Funktionen reicht indes nicht aus, um die frühneuzeitliche Festungsstadt zu charakterisieren, denn die Gründung von Städten an strategisch wichtigen Standorten lässt sich auch für Gründungsstädte des Mittelalters feststellen. Während aber in den Gründungsstädten der Bau der Verteidigungsanlagen auch im Interesse der Stadtbewohner lag, trat der Schutz der Bürger- bzw. Einwohnerschaft der Stadt sowie der benachbarten Landbevölkerung in den frühneuzeitlichen Festungsstädten hinter die militärisch und/oder politisch definierten Interessen des Staates zurück. Hierin besteht der wesentliche Unterschied zwischen einer befestigten Stadt und einer Festungsstadt. Zentraler Aspekt wurde die ausschließlich militärisch definierte Einsatzbereitschaft der Festungsstadt. Im Einschließungs- und Belagerungsfall konnte sich die Einwohnerschaft aus militärischer Sicht sogar als ein Hindernis für eine erfolgreiche Verteidigung erweisen. Zwar konnte die bewaffnete Macht noch bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges in den Festungsstädten nicht auf Hilfsleistungen der Stadtbewohner verzichten, doch war die militärische Führung stets bemüht, Teile der Bevölkerung aus der Stadt zu verweisen. Zum einen galt es Ressourcen zu schonen, zum anderen musste verhindert werden, dass politisch unzuverlässige Einwohner die Verteidigungsfähigkeit der Festung beeinträchtigten. Aufgrund der zentralen Bedeutung von Festungen für die Kriegsführung seit der zweiten Hälfte des 17. Jhs. und im 18. Jh. wuchs grundsätzlich für die Städte die Gefahr, zum Mittelpunkt von Kampfhandlungen zu werden.
Kennzeichnend für die Festungsstädte war jedoch nicht nur ihre militärische Funktion. Sie waren Ausdruck landesherrlicher Souveränität nach innen und nach außen. Nach außen sollten sie die Integrität des Territoriums garantieren, nach innen symbolisierten sie das Ende städtischer Autonomie sowie im Heiligen Römischen Reich auch die landesherrliche Suprematie über die Landstände, denn im Reichsabschied von 1654 waren die Stände verpflichtet worden, die aus Sicht des Landesherrn zum Schutz des Landes notwendigen Festungen zu unterhalten. Schließlich waren die Festungen ein Instrument obrigkeitlicher Disziplinierungsmaßnahmen.
Die Funktionszuweisung führte zum Teil zur Neugründung von Festungsstädten an strategisch bedeutsamen Punkten. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Neu- und Ausbau der französischen Festungsstädte im ausgehenden 17. Jh. durch Sébastien Le Prestre de Vauban (DNB) – bspw. Neuf-Brisach oder Saarlouis. Aber nicht in allen Fällen war der Staat der Träger der Befestigung. In manchen Städten, wie beispielsweise Göttingen, blieben die Befestigungsanlagen im Eigentum der Stadt – ungeachtet der Funktionalisierung durch den Staat.
Zur Erfüllung der ihnen vom Staat zugewiesenen Aufgaben musste die Stadt mit mehr oder minder zeitgemäßen Festungswerken umgeben sein. Die auf geometrischen Prinzipien basierenden und zunehmend verwissenschaftlichten fortifikatorischen Idealvorstellungen ließen sich in der Regel nur bei Neugründungen umsetzen. Diese Planstädte, die mit ihrer (sternförmigen) Idealanlage die Vorstellung der barocken Festungsstadt nachhaltig prägten, blieben indes Einzelfälle. Die waffentechnische Entwicklung erzwang zudem eine ständige Anpassung bzw. Fortentwicklung der Verteidigungsanlagen, die teilweise ein Vielfaches der eigentlichen Stadtfläche ausmachten und die immer mehr staatliche Ressourcen verschlangen. Die Verteidigungswerke waren fraglos die augenfälligsten architektonischen Zeugnisse der Festungseigenschaft, doch ist hiermit die militärische Infrastruktur einer Festungsstadt nur unzureichend erfasst. Neben Magazinen, Lazaretten, Wachgebäuden und anderen Funktionsbauten traten im Stadtgrundriss bzw. im Stadtbild vor allem die Unterkünfte für die auf den Landesherrn vereidigte Garnison hervor, in deren Händen die Verteidigung der Festungsstädte lag.
Mehr noch als durch die die Stadt umgebenden Wälle prägten die Rayonbeschränkungen, die seit dem ausgehenden 18. Jh. zunehmend normiert wurden, das Erscheinungsbild dieser Städte. Zur Sicherstellung des Schussfeldes wurden im Umkreis um die Festungsstädte Bauverbote bzw. Baubeschränkungen erlassen. Eine mehrere hundert Meter tiefe Zone vor den Wällen blieb demnach unbebaut. Die Festungswälle und die Rayonbeschränkungen verhinderten oder erschwerten Stadterweiterungen, doch war es vor allem der Ressourcenverbrauch, der am Ende des 18. Jhs. die Staaten veranlasste, in einer Vielzahl von Fällen die Festungseigenschaft aufzuheben. Auch das veränderte Kriegsbild – in den napoleonischen Kriegen hatte sich der Bewegungskrieg mit dem Ziel der Vernichtung der gegnerischen Armee als Operationsprinzip durchgesetzt – trug zu einer Neubewertung der Festungen bei. Gleichwohl erfuhr der Festungsbau nach 1814/15 einen überraschenden Aufschwung. Die Durchsetzung der europäischen Friedensordnung veranlasste auch die Großmächte, sich einer Defensivkriegsstrategie zuzuwenden und in den Ausbau von Festungswerken zu investieren. Für die minder mächtigen Staaten galten Festungen zudem als Grundpfeiler ihrer Unabhängigkeit.
Die Konsequenzen der Festungseigenschaft für die Städte traten in den Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs im Gefolge der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums im 19. Jh. nachdrücklich hervor. Die Einschnürung durch die Umwallung und vor allem die aus den Rayonbeschränkungen resultierenden Eingriffe in das Privateigentum bestimmten die Debatten im 19. Jh.
Thomas Tippach (1.9.2014)