Exile-Letters

Friedeman-Waldeck 1939–1942

Korrespondenzen jüdischer Familien aus Münster, die vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Verfolgung durch Flucht und Emigration getrennt wurden, werden als digitale Edition auf Basis der Auszeichnungssprache TEI (Text Encoding Initiative) aufbereitet und mithilfe des TEI-Publishers veröffentlicht. Die Transkriptionen der Briefe werden mit Faksimileansicht und einer inhaltlichen Kommentierung präsentiert. Die neue Website bietet sowohl über den Dokumenten-Browser als auch über Suchfunktion und Register individuelle Zugänge.

Digitale Edition www.exileletters.de
© IStG

Präsentation des Projektes "Exile Letters" in der Stadtbücherei Münster

Briefe einer jüdischen Familie zwischen Emigration und Deportation
Maya Waldeck, Ruth Federman Stein und Josh Federman vor dem Veranstaltungshinweis in der Stadtbücherei Münster
© Rita Schlautmann-Overmeyer

Als Gerda Friedeman 1988 die Originalbriefe ihrer Eltern, der jüdischen Kaufleute Henny und Carl Waldeck, aus den Jahren 1940 und 1941 Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer für die Ausstellung „Geschichte der Juden in Münster“ überließ, konnte sie nicht ahnen, dass diese Dokumente einmal Teil einer Briefedition werden würden. Die Briefe der in Münster verbliebenen Eltern an ihre in verschiedene Teile der Welt emigrierten Kinder wurden im Rahmen des vom Institut für vergleichende Städtegeschichte (IStG) erarbeiteten Projekts „Exile Letters“ digital ediert und auf der Webseite www.exileletters.de veröffentlicht. Auch Briefe, die Gerda zwischen 1939 und 1942 von ihrem im englischen Exil lebenden Ehemann Simon Friedeman erhalten hatte, sind Teil dieser Edition. Die insgesamt 162 Selbstzeugnisse der während des Nationalsozialismus durch Flucht und Emigration getrennten Familie Friedeman-Waldeck sind im Original unter anderem in der Villa ten Hompel archiviert und nun über vielseitige Navigations- und Suchfunktionen als Faksimile mit Transkription auf der genannten Projektseite zu finden.

Acht Jahrzehnte nach der Ermordung von Henny und Carl Waldeck durch die Nationalsozialisten waren am 11. Dezember 2024 drei Waldeck-Nachkommen aus Florida (Ruth Federman Stein) und Quebec (Maya Waldeck) sowie aus North Carolina (Josh Federman) angereist. Sie wollten dabei sein, als Rita Schlautmann-Overmeyer und Simon Dreher vom IStG in der Stadtbücherei Münster das Projekt „Exile Letters“ sowie Kurzbiografien der Familien Friedeman und Waldeck der Öffentlichkeit präsentierten. Unterschiedliche Kooperationspartner waren beteiligt: Cordula Gladrow (Stadtbücherei Münster), Carsten Rothaus (Schlaun-Gymnasium), Stefan Querl (Villa ten Hompel) und Peter Worm (Stadtarchiv Münster).

Ruth Federman Stein und Maya Waldeck (vorne) sowie Josh Federman mit den Projektmitarbeitenden Angelika Lampen, Simon Dreher und Rita Schlautmann-Overmeyer und der Lehrer Carsten Rothaus sowie Schüler*innen des Schlaun-Gymnasiums
© Schlaun-Gymnasium Münster

Auszüge aus den edierten Briefen wurden unter der Leitung von Carsten Rothaus von Schülerinnen und Schülern des Zusatzkurses Sozialwissenschaften am Schlaun-Gymnasium in einer dialogischen Lesung vorgestellt. Clara Zentgraf, Anna Marinca, Emily Herber, Malena Kaiser, Ginta Nekvedaviciute, Hadassah Ma, Jan Rönick und Alexandra Kochetov trugen ausgewählte Passagen aus den Korrespondenzen vor, die sehr eindrucksvoll einerseits die Situation jüdischer Menschen vor ihrer Deportation schildern und andererseits das Leben im Exil.

Schülerinnen des Schlaun-Gymnasiums im Gespräch mit den Nachfahren Ruth Federman Stein und Maya Waldeck (re.)
© Christoph Spieker

Gerdas Tochter, Ruth Federman Stein, resümierte: „Diese Briefe geben neue Einblicke in das Leben meiner Eltern und Großeltern. So werden auch unsere Kinder, Enkel und Urenkel mehr über den Überlebenskampf während des Holocaust erfahren und darüber, wie meine Eltern schließlich wieder zusammengefunden haben“. Nach diesen emotionalen Worten entwickelte sich beim anschließenden Umtrunk ein intensives Gespräch mit den Waldeck-Nachfahren.

Über das Projekt

Das Projekt „Exile-Letters Friedeman-Waldeck“ erschließt, kommentiert und ediert Ego-Dokumente jüdisch-deutscher Geschichte und nationalsozialistischer Verfolgung in ihrer regionalen Ausprägung. Im Mittelpunkt steht der Briefwechsel von Simon (gest. 2001) und Gerda Friedeman (gest. 2015), geb. Waldeck, die einzeln aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Großbritannien und in die USA fliehen konnten. Aus der Zeit der Trennung (1939–1942) haben sich etwa 130 Briefe – vorwiegend des Ehemanns – erhalten, in denen er verschiedene Lebensbereiche thematisiert: Neben alltäglichen Erlebnissen als „Refugee“ werden Erinnerungen an die Inhaftierung im Konzentrationslager ebenso geschildert wie der Umgang mit Angst und Bedrohung. Kommentiert wird auch die Situation der Zurückgebliebenen in der Heimat und das aktuelle Kriegsgeschehen. Ein immer wiederkehrendes Thema war sein Verhältnis zur eigenen Religion. Aus einem religiösen Elternhaus stammend, trieb ihn die Frage um, ob er sich zum Rabbiner orthodoxer oder liberaler Richtung ausbilden lassen solle.

Die Korrespondenz des Ehepaares Friedeman wird ergänzt durch Briefe und Postkarten der Eltern Gerda Friedemans, Henny und Carl Waldeck (1944 in Theresienstadt bzw. Auschwitz umgekommen), an ihre emigrierten Kinder. Sie verdeutlichen auf exemplarische Weise die nationalsozialistische Verdrängungspolitik vor Ort.

Die digitale Edition führt das Material, das auch in englischer Übersetzung vorliegt, zusammen und sichert es. Sie liefert darüber hinaus Ansatzpunkte, um – ausgehend von der konkreten Familie Friedeman-Waldeck – Erinnerung zu erschließen, nachvollziehbar und für ganz unterschiedliche Fragestellungen nutzbar zu machen. Die Edition des Briefkorpus leistet somit einen Beitrag zur Erzeugung von Empathie und ermöglicht zukünftigen Generationen ein Erinnern nach dem „Ende der Zeitzeugenschaft“. Die digitale Edition der Briefe erfolgt nach der als Standard etablierten TEI-basierten Briefauszeichnung (Text Encoding Initiative, TEI P5) und bietet kontextualisierende Informationen von Personen, Orten und Ereignissen mit Verknüpfung von Normdaten (wie GND und GeoNames). Nutzer können darüber ihre individuellen Zugänge zum Material wählen. Ferner sollen die erzeugten Daten in das Brief-Metadatenverzeichnis „correspSearch“ eingebunden werden, um sie so für vergleichende Forschungen anschlussfähig zu machen. Damit wird das Projekt dazu beitragen, die bisher noch kaum systematisch erschlossene Quellengruppe der Briefe von Jüdinnen und Juden aus dem Exil der Forschung zugänglich zu machen.

Die Erfahrungen mit der Online-Publikation werden in einer „best practice“-Handreichung zusammengefasst. Diese soll einen niedrigschwelligen Einstieg in digitale Editionen gemäß TEI XML bieten, sodass auch bereits bestehende analoge Briefeditionen in digitale Varianten überführt werden können.