„Religionen tun sich schwer, Entscheidungen zu treffen“
Öffentliche Ringvorlesung über religiöses Entscheiden von der Antike bis heute – Exzellenzcluster und SFB 1150 untersuchen ab 18. Oktober, wie im Judentum, Christentum und Islam über Glaubensfragen entschieden wird – Vom „Wink Gottes“ über Gelehrte bis zum unfehlbaren Papst
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 10. Oktober 2016
Religionsgemeinschaften tun sich nach Einschätzung von Wissenschaftlern schwerer als andere Organisationen damit, Entscheidungen zu treffen. „Anders als beim politischen und rechtlichen Entscheiden ist das Entscheiden über Religiöses nichts Selbstverständliches oder Alltägliches, da religiöse Wahrheiten und Normen in der Regel als unverfügbar gelten“, erläutert Historiker Prof. Dr. Ulrich Pfister. „Doch gerade in kulturell vielfältigen Gesellschaften ist es politisch bedeutsam, welche religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen verhandelbar sind und welche nicht – seien es Glaubenssätze, Verhaltensnormen oder Eigeninteressen religiöser Gruppen. Denn wo sie in der Geschichte als nicht entscheidbar galten, kam es oft zu grundlegenden, nicht zuletzt auch gewaltsamen Konflikten“, so Ulrich Pfister, der die Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Kulturen des Entscheidens“ ankündigte.
Anhand zahlreicher Fallbeispiele von der Antike bis heute befasst sich die öffentliche Reihe im Wintersemester 2016/2017 ab Dienstag, 18. Oktober, damit, wie in Judentum, Christentum und Islam über Religiöses entschieden wird und wer dies in welcher Weise tun darf. Erörtert wird auch, auf welche Narrative und Ressourcen dabei zurückgegriffen wird – vom Wink Gottes über die Gelehrtenkultur bis zur Unfehlbarkeit des Papstes. Als Beispiel nennt Historiker Pfister, der SFB-Sprecher und Forscher des Exzellenzclusters ist, Konflikte um Religions- und Ethikunterricht an deutschen Schulen. „Eine weltanschaulich plurale Gesellschaft hat zu verhandeln, wer welche religiösen und weltanschaulichen Inhalte bekenntnisgebunden unterrichten darf. Sie muss auch Verfahren finden, um geeignete Akteure, etwa der Islam- und Humanisten-Verbände, auszuwählen.“
„Reformation brachte Probleme“
Auch die Reformation vor fast 500 Jahren zeigt nach den Worten des Wissenschaftlers, welche Probleme es mit sich bringen kann, wenn bei althergebrachten religiösen Überzeugungen oder Praktiken, die als unverfügbar galten, Entscheidungsbedarf entsteht. „In Folge der Reformbestrebungen der Reformatoren mussten neue Entscheidungsverfahren wie Religionsgespräche und Ratsgerichte in Städten entwickelt werden, um zu bestimmen, wie und von wem überhaupt über Religiöses entschieden werden konnte, nachdem die bisherigen Autoritäten in Frage gestellt worden waren.“ Die Ringvorlesung untersucht auch philosophische, theologische oder literarische Diskurse, in denen religiöse Entscheidungen reflektiert werden. Die 14 Vorträge sind dienstags von 18.15 Uhr bis 19.45 Uhr in Hörsaal F 2 im F-Haus am Domplatz 20-22 in Münster zu hören.
Die Reihe beginnt am 18. Oktober mit einem Einführungsvortrag des Religionssoziologen Prof. Dr. Detlef Pollack und der Historikerin Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger. Es folgen Vorträge über die politische Ethik des Alten Testaments, juristische Entscheidungen im klassischen Islam, Hellseher am byzantinischen Kaiserhof und die Antworten jüdischer Gelehrter auf Glaubensfragen, „Responsa“ genannt. Hinzu kommen Beiträge über die mittelalterliche Inquisition, das Entscheiden des frühneuzeitlichen Papsttums sowie Dogma und Unfehlbarkeit in der Geschichte des kirchlichen Lehramts. Auch geht es um die Reformation in Westfalen, das Entscheiden aus Sicht der Spieltheorie, das religiöse Entscheiden in literarischen Texten und die Diagnose „Besessenheit“ durch zeitgenössische Exorzisten.
Vertreten sind die Geschichts- und Islamwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Theologie, Byzantinistik, Germanistik und Judaistik. Ulrich Pfister hat die Reihe gemeinsam mit dem Religionssoziologen Prof. Dr. Detlef Pollack und den Historikern Prof. Dr. Wolfram Drews, Dr. Philip Hoffmann-Rehnitz und Dr. Iris Fleßenkämper organisiert.
Erleuchtung, Hellsehen oder Unfehlbarkeit
Die Veranstalter verstehen „Entscheiden“ als soziale Praxis, die dazu dient, ausdrücklich alternative Handlungsoptionen zu entwickeln und die letztlich immer willkürliche Wahl einer Option zu legitimieren. Der SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ untersucht dies seit 2015 anhand politischer, rechtlicher und religiöser Entscheidungen. „Die Besonderheit religiösen Entscheidens liegt darin“, führt Ulrich Pfister aus, „dass der Kern religiöser Wahrheit in der Regel als etwas gesehen wird, das als dem menschlichen Handeln nicht verfügbar und damit dem Entscheiden entzogen ist oder sein sollte.“ Religionsgemeinschaften rechtfertigten dies, so der Historiker, unter Rückgriff auf verschiedene Ressourcen: ihre jahrhundertealte Tradition oder das Charisma von Menschen, die eine besondere Beziehung zum Jenseits hätten, ob durch Erleuchtung, hellseherische Fähigkeiten oder Unfehlbarkeit.
„Daraus leiteten sich auch Normen für die Lebensführung ab – vom Sexualverhalten bis zum Zinsverbot – sowie für das politische und religiöse Leben, die in Religionen ebenfalls oft als unverfügbar gelten“, unterstreicht Prof. Pfister. Kamen jedoch Bestrebungen auf, religiöse Ideen und Normen zu verändern, nahm dies je nach Epoche, Religion oder Region einen unterschiedlichen Lauf. „So bildeten sich im westlichen Christentum ab dem Spätmittelalter unterschiedliche Verfahren heraus, um Entscheidungen in religiösen Fragen treffen und legitimieren zu können, wie die Inquisition“, sagt der Historiker. „Auch die moderne päpstliche Hierarchie und Bürokratie, die mehrfach Thema unserer Ringvorlesung sein wird, lassen sich in diesem Kontext verstehen“, erläutert der Wissenschaftler.
Im Judentum und Islam hingegen hätten sich angesichts des Fehlens einer „anstaltsmäßigen Organisation“ der Religionsgemeinschaften bis heute „stärker horizontal ausgerichtete Entscheidungsformen“ erhalten, die wesentlich von Gelehrten und deren Reputation getragen würden. „In der Ringvorlesung wollen wir erörtern, inwiefern religiöses Entscheiden auf die Autorität einzelner Personen zugeschnitten ist oder von einer institutionellen und organisatorischen Logik bestimmt wird.“ Neben dem Wie und Wer werde aber auch das Was in den Blick genommen, sprich, über welche religiösen Themen entschieden werden konnte und über welche nicht, und welche sozialen und kulturellen Bedingungen dazu beitrugen, dass sich die Gegenstände religiösen Entscheidens wandelten. „Damit kann der Blick auf die historischen Bedingungen, Formen und Narrative religiösen Entscheidens und ihrer Veränderung unser Verständnis von religiösem Wandel insgesamt stärken“, so der Historiker. (vvm)