Diagnose Besessenheit
Ethnologe Thomas Csordas aus San Diego zur Exorzismus-Praxis der katholischen Kirche
Über den römisch-katholischen Ritus des Exorzismus hat der Ethnologe Prof. Dr. Thomas Csordas von der University of California in San Diego am Exzellenzcluster gesprochen. „Der kirchliche Exorzismus mit seiner Diagnose von Besessenheit und der Austreibung von Dämonen ist derzeit weiter verbreitet als je zuvor seit der Inquisition“, sagte der Wissenschaftler. Er legte in seinem Vortrag Ergebnisse seiner ethnographischen Forschungen über die Rolle von Exorzisten, betroffener Personen und Psychologen dar und gab anthropologische, soziale und therapeutische Einschätzungen zum Exorzismus-Ritus ab. „Die Vorstellung, dass Menschen von körperlosen Wesen kontrolliert oder besessen sein können, ist in den Kulturen und Religionen der Welt weit verbreitet“, so der Ethnologe, der sich in seinen Forschungen schwerpunktmäßig mit therapeutischen Prozessen im Rahmen religiöser Heilungen befasst. Er ist Direktor des Department of Anthropology der University of Califonia in San Diego und leitet die Abteilung für psychologische und medizinische Anthropologie.
Der Wissenschaftler beschrieb den römisch-katholischen Exorzismus als heilenden Ritus der Kirche, den ein Priester mit der ausdrücklichen Genehmigung des zuständigen Bischofs durchführe. Als Beispiel für die heutige Praxis, die nach Csordas in der katholischen Kirche als eine Form des Gebets aufgefasst wird, führte er Italien und die USA an: „Während es in den 194 Diözesen in den USA derzeit etwa 60 Exorzisten gibt, werden für die 228 Diözesen in Italien etwas mehr als 200 geschätzt. Nur wenige Diözesen in den USA haben demnach offiziell ernannte Exorzisten, während manche italienische Diözesen sogar mehr als einen haben, die Erzdiözese Mailand sogar zwölf.“ Amerikanische Priester erhalten Csordas zufolge ihre Exorzismus-Ausbildung meist in Italien.
Heilungsform und Diskurs über das Böse in der Welt
Prof. Csordas sieht den „Exorzismus in der weltweit größten religiösen Institution an der Schnittstelle von Therapie und Kosmologie“. Er sei einerseits als Heilungsform für Betroffene aufzufassen, andererseits als ein Diskurs über das Böse in der heutigen Welt. Der englischsprachige Vortrag trug den Titel „Diagnosing possession in contemporary Catholic exorcism“ („Besessenheit diagnostizieren im zeitgenössischen katholischen Exorzismus“). Er bildete den Abschluss der öffentlichen Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ des Exzellenzclusters und des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Kulturen des Entscheidens“ im Wintersemester 2016/17.
Csordas bezeichnete es als Ziel seiner ethnografischen Beobachtungen zu untersuchen, „wie als dämonisch aufgefasste Manifestationen in körperlicher Erfahrung auftauchen und wie das katholische Exorzismus-Gebet selbst ein körperlicher Vollzug ist“. Andererseits gelte es, „die vielfältigen Rollen dieses Gebetes zu klären, das als Bitte, Befehl, Verteidigung und Stärkung diesen Manifestationen begegnet.“ Somit sei die Frage weniger, was solche außergewöhnlichen Erfahrungen über die körperlosen Wesen aussagen, denen Gläubige im Exorzismus begegnen, als vielmehr, was sie über unsere eigenen Körper und unsere körperliche Existenz aussagen.“
Besessenheit – eine kulturübergreifende Vorstellung
Prof. Csordas führte in seinem Vortrag aus, wie facettenreich das Phänomen des Exorzismus sei: „Exorzismus ist eine institutionell sanktionierte Form des Gebetes, die in verschiedenen Kontexten in der ganzen katholischen Welt praktiziert wird. Das geschieht in einer großen kulturellen Vielfalt. Diese Variation in der rituellen Praxis gilt es besonders zu beachten.“ Exorzismus sei zugleich eine Form des Gebetes, die dem entgegenwirken soll, was als schwächende Kraft des Bösen verstanden werde. In dieser Hinsicht gelte es, den Beitrag des Exorzismus zu Wohlergehen, Spiritualität und moralischer Entwicklung des Menschen zu beachten.“
Prof. Csordas beleuchtete auch soziale und institutionelle Aspekte des Exorzismus. „Alle Exorzisten in diesem religiösen System sind katholische Priester, also Männer, während die Mehrheit der Besessenen und Hilfebedürftigen Frauen sind“, hob er hervor. Dabei präsentierte er aus seinen ethnographischen Forschungen Schilderungen von vier italienischen Frauen, die sich dem Exorzismus-Ritus unterzogen haben. Der Wissenschaftler sah darin sowohl ein echtes Leiden der Frauen, als auch ein aufrichtiges Bestreben der Exorzisten, das Leid zu lindern. Zugleich fragte der Ethnologe, inwieweit das patriarchale System selbst bestimmte Formen des Leidens hervorbringe, um sich dann zu bemühen, sie durch Exorzismus rituell zu lindern.
Öffentliche Ringvorlesung
Die öffentliche Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ befasste sich im Wintersemester mit der Frage, wie von der Antike bis heute in Judentum, Christentum und Islam über Religiöses entschieden wird und wer dies in welcher Weise tun darf. Sie untersuchte auch philosophische, theologische oder literarische Diskurse, in denen religiöse Entscheidungen reflektiert werden. Die interdisziplinäre Reihe untersuchte auch die philosophischen, theologischen oder literarischen Diskurse, in denen religiöse Entscheidungen reflektiert werden, und auf welche Ressourcen dabei zurückgegriffen wurde, vom Wink Gottes über die Gelehrtenkultur bis zur Unfehlbarkeit des Papstes.
Im Sommersemester 2017 lädt der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ zur Ringvorlesung „Religion und Musik“ mit Vorträgen und Konzerten ab Dienstag, 25. April, ein. Zusätzlich zu den Vorträgen renommierter Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen bietet das Programm drei musikalische Veranstaltungen: einen Liederabend mit Liedern von Beethoven, Schubert und anderen, eine griechisch-orthodoxe Vesper sowie ein Konzert mit Musik des Islams. Die Reihe läuft vom 25. April bis zum 18. Juli dienstags von 18.15 bis 19.45. Die Vorträge sind im Fürstenberghaus, Domplatz 20-22 zu hören, die Aufführungen in der Petrikirche, Jesuitengang. (ill/vvm)