„Zwischen Glaube und Kalkül“
Theologe Achenbach über religiöses und politisches Entscheiden im Alten Testament
Über das Dilemma von Entscheidungen im Spannungsfeld von Glauben und politischem Kalkül hat der Alttestamentler Prof. Dr. Reinhard Achenbach vom Exzellenzcluster in der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Kulturen des Entscheidens“ gesprochen. Der evangelische Theologe erörterte Fragen des politischen und religiösen Entscheidens anhand des Beispiels von König Ahas aus dem Prophetenbuch Jesaja im Alten Testament. Er untersuchte insbesondere die Textstelle „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jesaja 7,9). und beleuchtete, wie hier im Entscheidungsfalle rationales politisches Kalkül zu Forderungen des Glaubens steht. „Die Einbringung einer religiösen Perspektive in Diskurse um politische Entscheidungsprozesse kann einerseits zum Ziel haben, die Situation hinsichtlich der Gefahr der Hybris kritisch zu begleiten und andererseits durch das Offenhalten der Optionen in dilemmatischen Situationen die Entscheidungsträger zu entlasten“, erläuterte Prof. Achenbach.
Der Vortrag legte diesen Zusammenhang an Hand der Textstelle aus dem Prophetenbuch dar. Er beleuchtete die biblischen Hintergründe des Textes sowie seine Rezeption in der Moderne, etwa in der Friedensbewegung. Zu den Dilemmata von Entscheidungssituationen führte der Wissenschaftler aus: „Kennzeichnend dafür ist die Unsicherheit, weil Handlungsoptionen nur begrenzt zu kalkulieren sind.“ Dies betreffe auch die Sachverhalte, auf welche die Entscheidenden keinen Einfluss hätten und das Ausmaß der Konsequenzen, welche nach der Entscheidung eintreten könnten. „Im Spannungsfeld zwischen Kalkül und Kontingenz stellt sich darum oft die Frage nach einer religiösen Perspektive, um Entscheidungsträger zu entlasten“. In der Antike hätten sie daher vor schwierigen Entscheidungen oft Orakel zu Rate gezogen.
König Ahas und sein bedrohtes Reich
„In der biblischen Erzählung aus dem Prophetenbuch Jesaja begegnet uns ein paradigmatisches Narrativ besonderer Art“, sagte der Theologe. „Berichtet wird von einem König Ahas, dessen Reich von mehreren Seiten bedroht ist. Der charismatische freie Seher Jesaja konfrontiert ihn mit der Forderung, von militärischen Maßnahmen abzusehen und sich allein auf Gott zu verlassen.“ Symbolhaft verweise er auf die Geburt eines Kindes namens „Immanuel“, der „Gott ist bei uns“ bedeutet. „Der König aber weist das Symbol aus politischem Kalkül mit Verweis auf die Gebote der Religion zurück und entscheidet sich dafür, seine militärische Option den Hegemonialansprüchen der expandierenden Assyrer zu unterstellen.“ Der Wissenschaftler schlussfolgerte: „Rationales politisches Kalkül steht hier gegenüber der Forderung des Glaubens.“
Als Beispiel für die Rezeption der alttestamentlichen Textstelle in modernen Auseinandersetzungen, sprach Reinhard Achenbach über die kirchliche Friedensbewegung, die gegen atomare Aufrüstung und für Friedensgespräche eintrat und im Rahmen ihrer Proteste den Propheten mit „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!“ zitierte. Der Wissenschaftler widmete sich dabei insbesondere der Frage, in welchem Verhältnis die Notwendigkeit der Wahrnehmung politischer Verantwortung zu solchen religiösen Prinzipien stehe. Der Vortrag trug den Titel „‚Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!‘ (Jesaja 7,9). Zum Dilemma verantwortlicher Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen Religion und Politik“.
Religiöse Entscheidungen von der Antike bis heute
In der Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ spricht am Dienstag, 8. November, der Byzantinist Prof. Dr. Michael Grünbart vom Exzellenzcluster. Der Vortrag lautet „Göttlicher Wink und Stimme von oben. Ressourcen des Entscheidens am byzantinischen Kaiserhof“. Die Ausführungen sind um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 zu hören.
Die öffentliche Reihe befasst sich im Wintersemester mit der Frage, wie von der Antike bis heute in Judentum, Christentum und Islam über Religiöses entschieden wird und wer dies in welcher Weise tun darf. Gerade für das Zusammenleben in Gesellschaften, die durch kulturelle Vielfalt gekennzeichnet sind, ist es nach Einschätzung der Veranstalter bedeutsam, welche religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen verhandelbar sind und welche unverfügbar – seien es Glaubenssätze, Verhaltensnormen oder Eigeninteressen religiöser Gruppen.
Die interdisziplinäre Reihe untersucht auch die philosophischen, theologischen oder literarischen Diskurse, in denen religiöse Entscheidungen reflektiert werden, und auf welche Ressourcen dabei zurückgegriffen wurde, vom Wink Gottes über die Gelehrtenkultur bis zur Unfehlbarkeit des Papstes. Es folgen Vorträge über juristische Entscheidungen im klassischen Islam, über die mittelalterliche Inquisition und die Antworten jüdischer Gelehrter auf Glaubensfragen, „Responsa“ genannt. Auch geht es um die Reformation in Westfalen, das religiöse Entscheiden in literarischen Texten und die Diagnose „Besessenheit“ durch zeitgenössische Exorzisten. (maz/vvm)