„Privatisierung religiösen Entscheidens“
Historiker Ziemann zur Konversion des Theologen Martin Niemöller in der NS-Zeit
Über die Konversion des evangelischen Theologen Martin Niemöller (1892-1984) zur katholischen Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus hat der Historiker Prof. Dr. Benjamin Ziemann von der Universität Sheffield am Exzellenzcluster gesprochen. Der Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ des Exzellenzclusters und des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Entscheidens“ rekonstruierte den Kontext, in dem die Entscheidung zur Konversion fiel. Der Wissenschaftler nahm dabei Briefe Niemöllers, kirchliche Entscheidungen sowie die Kirchenpolitik des „Dritten Reichs“ unter die Lupe. Der Vortrag trug den Titel „Martin Niemöllers Konversion zur katholischen Kirche 1939–1941. Zum Kontext einer religiösen Entscheidung“.
Der Historiker zeichnete die Geschichte der Konversion von 1939 bis 1941 nach: „Seit März 1938 war Martin Niemöller in Einzelhaft im Konzentrationslager Sachsenhausen. Der Dahlemer Gemeindepfarrer und Gründer des Pfarrernotbundes hatte von 1933 bis zu seiner Verhaftung 1937 an vorderster Front des Kampfes um die Ausgestaltung von Kirchenleitung und Bekenntnis in den evangelischen Kirchen im ‚Dritten Reich‘ gestanden.“ Wenige Monate nach der Verbringung in das Konzentrationslager habe Niemöller begonnen, sich mit Ritus und Überlieferung der katholischen Kirche zu beschäftigen, sagte Prof. Ziemann. Im Juli 1939 sei daraus die Absicht entstanden, die Konversion zur katholischen Kirche zu vollziehen.
Kirchliches Entscheiden
In Briefen und Gesprächen reflektierte Niemöller mit seiner Frau und – über sie vermittelt – mit evangelischen Weggefährten der Bewegung „Bekennende Kirche“ Fragen des kirchlichen Amtes und der kirchlichen Tradition. „Neben die persönliche Entscheidung trat kirchliches Entscheiden: Erst als die Evangelische Kirche Niemöller im Juni 1939 in den sogenannten ‚Wartestand‘ – eine Art vorläufigen Ruhestand – versetzte, wurde aus den vorherigen Erwägungen der feste Entschluss zum Kirchenaustritt.“
Niemöllers persönliche Entscheidung, die er als solche intensiv reflektiert und in drei zur Selbstverständigung geschriebenen Manuskripten auch theologisch begründet habe, sei keineswegs das Ergebnis einer Haft-Psychose gewesen, unterstrich Benjamin Ziemann. „Vielmehr beruhte sie auf seiner Beobachtung, dass der ‚Kirchenkampf‘ zu einer mannigfachen Zersplitterung und Konfusion in der evangelischen Kirche geführt hatte.“ Die Vorstellung einer bekenntnismäßig und lehramtlich in sich konsistenten Kirche sei für den Theologen dadurch ad absurdum geführt worden. „In weiterer Perspektive zeigt sich, dass die durch das ‚Dritte Reich‘ und seine Kirchenpolitik induzierte Pluralisierung und Fragmentierung des religiösen Feldes zu einer Unbeständigkeit führte, welche die ‚Privatisierung religiösen Entscheidens‘, wie sie der Soziologe Niklas Luhmann nannte, als eine wichtige Voraussetzung von Konversionen vorantrieb.“
Entscheiden aus Sicht der Spieltheorie
Die öffentliche Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ befasst sich im Wintersemester mit der Frage, wie von der Antike bis heute in Judentum, Christentum und Islam über Religiöses entschieden wird und wer dies in welcher Weise tun darf. Sie untersucht auch philosophische, theologische oder literarische Diskurse, in denen religiöse Entscheidungen reflektiert werden. Am Dienstag, 31. Januar, spricht der Religionssoziologe Prof. Dr. Jörg Stolz von der Schweizer Universität Lausanne über das Entscheiden aus Sicht der Spieltheorie. Der Vortrag trägt den Titel „Religion und Entscheiden aus der Sicht der Theorie sozialer Spiele“. Er ist um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 zu hören. (maz/vvm)