„Engel des Herrn“ und „Donna spauenteuole“: Bilder der Pest in der Kunst der Frühen Neuzeit
Von Kunsthistoriker Dr. Jens Niebaum
Der hier gezeigte Stich, den wohl Egidius Sadeler um 1580-1600 nach einer Vorlage des Antwerpener Malers Maerten de Vos als Teil eines Zyklus von Szenen aus dem Alten Testament im Verlag seines Onkels Johann fertigte, bringt in komprimierter Form eine Episode aus dem 2. Buch Samuel (Kap. 24: 15-25) und dem 1. Buch der Chronik (21:14-27) zur Darstellung, die von einer Pest zur Zeit Davids handelt. Die Vorgeschichte wird in der Bildunterschrift referiert: David hatte gesündigt, und unter drei möglichen Strafen, die Gott ihm zur Sühne durch den Propheten Gad zur Wahl stellte, hatte sich der König für „drei Tage das Schwert des HERRN und Pest im Lande“ (1. Chr. 21:12) entschieden. Als vollstreckende Instanz nennt der Bericht einen Engel, „der das Verderben anrichtete“; er erscheint links über einem mit Leichen übersäten Feld vor der im Hintergrund erkennbaren Stadt. Der Engel ist es auch, der David wiederum über Gad aufträgt, einen Sühnealtar „auf der Tenne Araunas, des Jebusiters“, zu bauen. Der Prophet steht etwas links der Mitte im Vordergrund und agiert anschaulich als Vermittler zwischen dem Engel und David, der rechts vor der Tenne niedergesunken ist, um an dem bereits fertigen Altar „Brandopfer und Dankopfer“ darzubringen; ihm werden unten rechts die von ihm selbst verfassten Klageverse aus Ps. 129 (130):1, 3 in den Mund gelegt. In der Folge des Sühneopfers gebot Gott „dem Engel, daß er sein Schwert in seine Scheide stecke“ (ebd. 21:18, 26); dies ist freilich nicht mehr dargestellt.
Dem Bibeltext zufolge hielt der Engel des Herrn „ein bloßes Schwert in seiner Hand ausgestreckt über Jerusalem“ (1. Chr. 21:15f.). Im Text als aktiv handelnder Vollstrecker charakterisiert, erfüllt er zugleich die Funktion eines Index für die Seuche, die solange andauert, wie er mit gezücktem Schwert „zwischen Himmel und Erde“, zwischen strafendem Gott und leidenden Menschen steht. De Vos unterstreicht diese Funktion noch, indem er dem Engel außer dem Schwert eine Geißel mit aufgepflanztem Totenschädel beigibt, Attribute, die im Bibeltext nicht genannt sind, aber gängige Symbole für Tod und Strafe darstellten. Vereinzelt konnte das Schwert auch durch das Attribut der Pestpfeile ersetzt werden (s. den Beitrag von M. Sandberg), etwa in einem Stich des Lucas van Leyden. Große Verbreitung erfuhr schließlich auch das Motiv des Pestengels, der sein Schwert einsteckt und so das Ende der Pest anzeigt. Das berühmteste Beispiel ist die Skulptur des Erzengels Michael auf dem römischen Hadriansmausoleum, die 1577 als Ersatz einer spätestens im 14. Jahrhundert bestehenden aufgerichtet und 1752 ihrerseits durch das heutige Exemplar ersetzt wurde: Sie perpetuiert eine Erscheinung, die 590 Papst Gregor dem Großen über der seither so genannten ‚Engelsburg‘ zuteil wurde und das Ende der in Rom grassierenden Seuche signalisierte. In zahlreichen Bildern des 17. und 18. Jahrhunderts zeigt das Motiv den Erfolg der Interzession von Heiligen zugunsten pestgeplagter Städte oder Gruppen an (s. Dossier [UN-] SICHTBARKEIT).
Der Engel stellt mithin ein Symbol für das Wüten der Pest dar, das direkt auf eine biblische Vorlage zurückgeht. Anders verhält es sich mit jenem Bild der Seuche, das am Hochaltar der berühmten, vom Senat der Republik Venedig gelobten Pestvotivkirche Santa Maria della Salute erscheint. Der aus Ypern gebürtige Bildhauer Josse de Corte schuf ein mehrteiliges Ensemble mit historisch-allegorischer Kerngruppe: Links kniet eine Allegorie Venedigs in den Gewändern des Dogen mit abgesetzter Kopfbedeckung vor Maria, die in den Wolken auf der Mondsichel steht und, ihr Kind auf dem Arm, als Fürbitterin erscheint. Der Erfolg von Bitte und Fürbitte wird auf der anderen Seite sichtbar: Ein Putto stößt mit brennender Fackel eine Allegorie der Pest vom Podium hinab, die mit lautem Schrei und abwehrend erhobenen Armen zu fliehen sucht.
Das eigentliche Thema des Bildes ist also nicht die Pest selbst, sondern vielmehr jener ‚Mechanismus‘ von Fürbitte und Erhörung, der nach verbreiteter Auffassung das Ende der Epidemie herbeigeführt hat. Wie hat nun der Maler diese der Anschaubarkeit entzogenen Vorgänge sichtbar gemacht? Zunächst ist festzustellen, dass der Maler die kategoriale Andersartigkeit von himmlischer und irdischer Sphäre deutlich kennzeichnet. Schon die Wolken markieren unübersehbar den konstitutiven Wirklichkeitsbruch, den das Kolorit der Figuren nachdrücklich verstärkt: Christus sowie der Racheengel werden vor bzw. auf der Höhe des göttlichen Lichts gleichsam zu lichtdurchtränkten Erscheinungen, während die auf einer mittleren Ebene zwischen göttlichen und irdischen Figuren angesiedelten Fürbitter Maria und Januarius in vergleichsweise kräftigen Farben erscheinen. Unter ihren Wolken sind die Toten hingegen anschaulich in tiefen Schatten gehüllt. In nur vordergründig paradoxer Weise werden also die irdischen Toten gleichsam dematerialisiert, die immateriellen der himmlischen Sphäre hingegen substantialisiert – und somit als die Protagonisten des eigentlichen Geschehens sichtbar gemacht.
Dargestellt ist die Pest als alte Frau mit grotesk verzerrten Zügen, runzliger Haut und zerschlissenem Gewand, das die tief herabhängende, ausgedörrte Brust freiläßt. Wie man weiß, hat sich de Corte hier an den beiden Vorschlägen orientiert, die der Peruginer Gelehrte Cesare Ripa (um 1555-1622) in der Iconologia, seiner berühmten, erstmals 1593 erschienenen Sammlung von Personifikationen abstrakter Begriffe, für eine Allegorie der Pest gemacht hatte. Diese wird als „alte, ausgemergelte und schauerliche Frau“ („Donna vecchia, macilenta, & spauenteuole“) imaginiert, die auf Tierhäuten sitzt und eine Geißel mit blutigen Striemen in der Hand hält; auch von einem „bleichen, furchteinflößenden Gesicht“, nackten Armen, zerrissenen Kleidern und „unförmigen“ Brüsten ist die Rede. Warum diese (und ähnliche) Attribute? „So wie diese Figur wegen ihres Alters und ihrer Farbe abgezehrt, häßlich anzusehen ist, so ist die Pest wegen ihrer schaurigen und trübsinnigen Gesamterscheinung schrecklich und abscheulich, so heisst es bei Ripa. Die Hässlichkeit der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungsformen bildet demnach das gemeinsame Dritte, das die Eignung des Bildzeichens für das Bezeichnete begründet (vgl. auch den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Dossier). Das Sinnbild der Pest wird hier also nicht biblizistisch, sondern ästhetisch fundiert – und bei de Corte durch den Kontrast zur strahlenden Schönheit Marias, aber auch der Allegorie Venedigs noch besonders gesteigert. Deutlich wird damit auch die enge Verschränkung ästhetischer und ethisch-religiöser Gesichtspunkte.
Ebenfalls als alte Frau erscheint die Pest in einer Allegorie des Wiener Hofbildhauers Paul Strudel, die um 1690/92 entstand und sich am Sockel der Dreifaltigkeitssäule, des berühmten, von Kaiser Leopold I. während der verheerenden Pest von 1679 gelobten und 1680-92 errichteten Pest-Monuments am Graben in Wien, befindet (s. Dossier RAUM). Gänzlich nackt und kopfüber zu Boden gestürzt, sucht sie verzweifelt den über ihr stehenden Putto abzuwehren, der mit einer brennenden Fackel auf sie einstößt. Die Attribute der Hässlichkeit sind hier noch zugespitzt: Tief graben sich die Falten unter den furienartig züngelnden Haaren in die Gesichtshaut, aus dem offenen Mund blecken nur einzelne Zähne, Dekolleté und herabhängende Brüste sind von Sehnen und Adern durchzogen.
Es ist bekannt, daß die allegorische Verkörperung der Pest hier mit Merkmalen kombiniert wird, die in der Darstellung der Häresie üblich waren, und in diesen Zusammenhang gehört auch der Umstand, dass eine Allegorie des Glaubens oder der Religion, verbildlicht als junge, wiederum betont schöne Frau mit dem Kreuz in der Hand, aufrecht neben der gestürzten Pest steht und bestätigend auf ihren Sturz verweist. Es war gängig, Pest mit „Ketzerei“ und „Unglauben“ eng zu verknüpfen; so wurde auf eine Äußerung des Jesuiten Petrus Canisius verwiesen, der „die Ketzer und die Schismatiker als eine schädliche Pestilentz“ bezeichnete (C. Boeckl). Auch hier zeigt sich sehr deutlich die Anschlussfähigkeit der Pest für andere Diskurse (s. den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf) – in diesem Fall als ein Mittel, andere Konfessionen und Religionen durch Engführung mit einer tödlichen Seuche in besonders scharfer Weise zu diskreditieren. Wenn in unserer Zeit der gegenwärtige US-Präsident Covid-19 durchgängig als „China Virus“ bezeichnet, so scheinen, über die Frage des Ursprungs der Pandemie hinaus, vergleichbare Mechanismen immer noch eine Rolle zu spielen.