Das Übel beim Namen nennen: Literarisches Sprechen über die Pest in La Fontaines Fabel „Les animaux malades de la peste“
Von Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Pia Claudia Doering (Romanistik)
Die Sprache stellt uns eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Verfügung, um Unsichtbares und Unvorstellbares in Worte zu fassen. Erst durch ihre Benennung werden Phänomene greifbar und verhandelbar, und die Namen prägen unsere Vorstellungen.
Zur Bezeichnung von Epidemien werden häufig Begriffe gewählt, die in einem spezifischen Verhältnis zu der jeweiligen Krankheit stehen: Mortalitas magna („das große Sterben“) etwa verweist auf die hohe Sterberate und die weite Verbreitung der mittelalterlichen Pest, mors nigra („der Schwarze Tod“) dagegen leitet sich wahrscheinlich von einem ihrer Symptome her, der bläulich-schwarzen Färbung der Haut von Pestkranken, und dem so abstrakt klingenden Namen Covid-19, der Abkürzung für Corona Virus Disease 2019, liegt eine bildliche Vorstellung des Erregers zugrunde, denn elektronenmikroskopisch vergrößert haben die Viren die Form eines Kranzes (lat. corona).
Um bedrohliche Mächte, denen der Mensch ausgeliefert ist, eindringlich zu beschreiben, kennt die Literatur ein wirkungsvolles sprachliches Mittel, dessen Ursprung im religiösen Kontext liegt: das Namenstabu, d.h. die absichtliche Nichtbenennung, die eine Umschreibung notwendig macht. In La Fontaines Fabel „Les animaux malades de la peste“ („Die pestkranken Tiere“, 1678) wendet der Erzähler das Spiel mit Umschreibung und pointierter Benennung auf die Pest an. Die Fabel beginnt wie folgt:
1 Un mal qui répand la terreur, Mal que le Ciel en sa fureur Inventa pour punir les crimes de la terre, La Peste (puisqu’il faut l’appeler par son nom) 5 Capable d’enrichir en un jour l’Achéron, |
Ein Übel, das Schrecken verbreitet, |
Faisait aux animaux la guerre. Ils ne mouraient pas tous, mais tous étaient frappés : On n’en voyait point d’occupés À chercher le soutien d’une mourante vie ; |
führte mit den Tieren Krieg. Sie starben nicht alle; doch alle waren sie betroffen: Man sah keinen einzigen damit beschäftigt, für den Unterhalt eines dahinsiechenden Lebens zu sorgen; |
10 Nul mets n’excitait leur envie ; Ni Loups ni Renards n’épiaient La douce et l’innocente proie. Les tourterelles se fuyaient : Plus d’amour, partant plus de joie. |
auf keine Speise hatten sie Lust. Weder Wölfe noch Füchse lauerten der sanften und unschuldigen Beute auf. Die Turteltauben flohen voreinander. Keine Liebe mehr, folglich auch keine Freude |
In: Jean de La Fontaine, Œuvres complètes, hg. v. Jean-Pierre Collinet, Paris 1991, Bd. 1, S. 249. |
In: Jean de La Fontaine, Fabeln, Französisch/ Deutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Jürgen Grimm, Stuttgart 1987, S. 25. |
In den ersten drei Versen spart der Erzähler den Namen der Pest aus. Der Schrecken, den sie verbreitet, wird durch die anaphorische Wiederholung des Wortes „mal“ sowie den Reim „terreur / fureur“ hervorgehoben. Die Beschreibung gipfelt schließlich in der Namensnennung „La Peste“ in Vers 4, wobei der Halbsatz in Klammern („puisqu’il faut l’appeler par son nom“) auf die Überwindung hindeutet, die es kostet, den Namen laut auszusprechen.
Die Tabuisierung eines Namens aus der Furcht heraus, mit der Benennung ein Übel heraufzubeschwören, ist bereits für die antike griechische Religion belegt. Hier werden beispielsweise die Erinyen, jene Göttinnen der Unterwelt, die Rache nehmen und Wahnsinn herbeiführen, aus Vorsicht nicht mit ihrem eigentlichen Namen, sondern allenfalls mit euphemistischen Umschreibungen benannt. Aber bereits die antiken Dichter, darunter Sophokles und Euripides, spielen mit dem Nebeneinander von Verschweigen, euphemistischer Paraphrase und expliziter Namensnennung. Jugendlichen Lesern der Gegenwart ist die Wirkung eines Namenstabus aus Joanne K. Rowlings Harry Potter-Romanen bekannt. In der magischen Welt trauen sich nur wenige, den Namen des Schreckensherrschers Lord Voldemort auszusprechen. Stattdessen verwenden die Menschen floskelhafte Umschreibungen wie „Du weißt schon wer“ oder „Er, dessen Name nicht genannt werden darf“. Der Mentor des Protagonisten, Albus Dumbledore, gibt seinem Schützling den Rat, sich der Tabuisierung des Namens nicht zu unterwerfen: „Nenn ihn Voldemort, Harry. Nenn die Dinge immer beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die Angst vor der Sache selbst.“ (J. K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen, übersetzt v. Klaus Fritz, Hamburg 2015, S. 237).
In La Fontaines Fabel wird deutlich, dass gerade das Zusammenspiel von Namenstabu und Namensnennung große Wirkung entfalten kann, weckt doch bereits das ‚beredte Schweigen‘ der Namenstabuisierung sowie die Deutung des Übels als göttliche Bestrafung menschlicher Sünden schlimmste Befürchtungen. Die so erzeugte Spannung entlädt sich im Wort „La Peste“, das auf diese Weise seinerseits mit besonderem Schrecken erfüllt wird.
An die pointierte Benennung der Pest schließt der Erzähler Bilder, Metaphern und Allegorien an, die die Folgen der Epidemie vor Augen führen: Dazu zählen das Bild des sich in nur einem Tag füllenden Totenflusses Acheron, die Kriegsmetaphorik sowie die Allegorie der vor einander fliehenden Turteltauben als Sinnbild für den Verlust von Liebe, Nähe und Freude. Innerhalb weniger Verse verbindet die Fabel somit drei literarische Verfahren – Umschreibung, pointierte Benennung sowie bildhafte Darstellung –, mit denen es gelingt, das schwer fassbare Grauen der Pest und deren tiefgreifende gesellschaftliche Konsequenzen greifbar zu machen.