Die schlimmste aller Seuchen
Von Historikerin Katharina Wolff
Was ist das Schlimmste an einer Seuchenkatastrophe? Die Toten? Die geschädigt Überlebenden? Die Angst, die alles begleitet? Die Ungewissheit des Ausgangs? Wollte man dieses Schlimme noch steigern, um in einer fiktiven Adaption der Thematik das Maximum an Schrecken zu erreichen, wie würde dieses schließlich aussehen?
Als man noch keine Mikroskope hatte, da waren die Theorien über die Natur der Pest noch recht vielfältig. Seuchen rührten von Miasmen her oder von einer Dyskrasie der Körpersäfte, auch von der strafenden Hand Gottes, die europaweit die Menschen niedersenste. Das Mittelalter dauerte im Hinblick auf Krankheitstheorien bis ins 19. Jahrhundert: So lange dauerte es, bis die alten Paradigmen durch Zellularpathologie und Mikrobiologie abgelöst wurden. Bald folgten erste Versuche zur Immunisierung und erste Arzneimittel. Der gefürchteten Syphilis konnte Paul Ehrlich 1909 das Arzneimittel Salvarsan entgegensetzen, es folgten weitere Antibiotika zur Bekämpfung der alten Schrecken. Der Arzt und Seuchenhistoriker Friedrich Sticker belächelte im Jahr 1908 rückblickend die vergangenen Zeiten:
„Um die Bedeutung der Entdeckung des Pestbazillus für die Naturgeschichte der Pest in das rechte Licht zu stellen, erscheint es nicht überflüssig, mit ein paar Worten auf frühere Vorstellungen und Anschauungen von der Ursache der Pest einzugehen. Religiöse Ahnungen, dichterische Einbildungen, philosophische Hirngespinste streiten wider einander; teleologische Meinungen und naturwissenschaftliche Auffassungen und Feststellungen wechseln sich ab je nach Geist der Zeiten und der Bildung des Zuschauers. Der Einfältige staunt und sieht zürnende und strafende übernatürliche Mächte; dem Gelehrten bleibt nichts unverständlich, er faselt sogleich von kosmischen und tellurischen Zeugungen; der Denker ahnt natürliche Zusammenhänge und bildet sich verständliche Gleichnisse und Begriffe wie Pestzunder, Pestsamen, Pestkeime. Abseits von ihnen arbeitet der Forscher und ruht nicht, bis er das Vermutete, das Wahrscheinliche, das beinahe Gewisse als gewiß sieht und anderen sichtbar machen kann.“
Was über Jahrtausende Gültigkeit gehabt hatte, was man anhand von Knochenmännern, berittenen Dämonen, Pestheiligen, Pestpfeilen und darniederliegenden Siechen darzustellen versucht hatte (vgl. die Beiträge von Eva Krems, Jens Niebaum und Matthias Sandberg in diesem Dossier), was aber stets selbst kein Gesicht hatte, all dies schien nun überwunden zu sein. Die Gesellschaften erlebten einen Aufbruch in ein neues Zeitalter, Technologien und Pharmazie begleiteten sie in eine weitaus sicherere Welt – oder?
In den vergangenen 25 Jahren jedoch, mit fortschreitender Gewissheit über drohende Resistenzbildungen und gleichzeitig wachsende Mobilität tauchte etwas diffus Bedrohliches dort auf, wo solches (Un-)Bewusstsein sich niederschlägt, nämlich in der Popkultur. Als frühes Beispiel und wenig allegorisch sei an Wolfgang Petersens Film Outbreak (1995) zu denken. Eindeutig an die Ebola angelehnt spielt die Darstellung den Fall einer amerikanischen Kleinstadt, in der ein hämorrhagische Fieber ausbricht, durch. In den folgenden Jahren spiegeln die Darstellungen jedoch die Diffusität des Bedrohungsgefühls wider: Dass „etwas“ die modernen Gesellschaften überrumpeln und überrollen könnte, dass „etwas“ trotz aller Sicherheitspolitik, Technologie, Vorhersagemöglichkeiten und Forschungen die Welt aus den Angeln heben könnte, diese Vorstellung haben zahlreiche Werke der Popkultur in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam. Darunter befinden sich nicht allein Seuchenszenarien, auch an Roland Emmerichs The Day After Tomorrow als Klimadrama (2004) ist zu denken. Doch gerade die Furcht vor einer Pandemie kehrte regelmäßig wieder, und zwar in der Verkleidung eines fast schon Fantasy- oder Science Fiction-Szenarios mit sehr realistischen Zügen, nämlich als Zombiefilm, Streamingformat, PC- und Onlinegame oder Brettspiel.
Filmische Umsetzungen erschienen nicht allein in den Kinos wie etwa Francis Lawrence`s I Am Legend (2007) oder Marc Forster`s World War Z (2013), auch verschiedene, weltweit sehr erfolgreiche Streamingformate wie The Walking Dead (AMC, 2010-19) oder Game of Thrones (HBO, 2011-19) handeln von oder beinhalten an wichtiger Stelle Zombieseuchen. Der letztgenannte Begriff muss kurz überdacht werden: Aus dem haitianischen Vodun stammend, kann ein Zombie nur durch das Zutun eines Priesters zum Leben erweckt werden. Ansteckend wurden Zombies erst in der Imagination popkultureller Adaptionen des 20. Jahrhunderts. Der besondere Schrecken liegt in der Auflösung der eingangs getätigten Überlegung: in der Steigerung dessen, was ohnehin die Menschen in Seuchenzeiten überwältigt. Wo Giovanni Boccaccio um die Mitte des 14. Jahrhunderts noch die Leichen in den Straßen beklagte, da laufen sie den Menschen in den Erzählungen des 20. und 21. Jahrhunderts sogar hinterher. Boccaccio brachte seine Bestürzung darüber zum Ausdruck, dass Familien einander nicht mehr beistehen würden, Mann und Frau sich im Stich ließen und die Seuche viele entzweite. Betrachtet man eine Szene vom Ende des Films World War Z, in dem Bulldozer Leichen- und Zombieberge zusammenschieben und die graue Masse Befallener und Toter angezündet wird, so wird darin deutlich: Dies sind keine Patienten mehr, sie werden nicht beklagt, therapiert oder bestattet. Im Moment der Infektion werden sie von Brüdern, Freunden, Töchtern und anderen Lieben zum Feind. Sie werden zur Seuche 2.0, zur Inkarnation der Seuche selbst, jeglichen menschlichen Zuges beraubt, vielleicht noch mit bösartiger Intelligenz in eigener Sache begabt. In einer scheinbar so sicheren Welt, in der jeder überallhin reisen konnte, in der man die Verantwortung für die eigene Gesundheit den hochdifferenzierten Expertisen von Fachkulturen übereignete, wuchs im (Unter-)Bewusstsein eine diffuse Angst davor, dass es schließlich doch etwas geben mochte, das diese Sicherheit gefährden konnte.
Die metaphorische Verkörperung dieser schlimmsten aller Seuchen, die Essenz der Seuchen, sind im 21. Jahrhundert die Zombies. Sie stellen die Versinnbildlichung, das Maximum, die schlimmste aller Seuchen dar, die den Menschen dessen beraubt, was ihn ausmacht, die den Menschen entmenschlicht.