Medaille »100 Jahre Verein der Münzfreunde für Westfalen und Nachbargebiete«, 2013
Entwurf: Anna Martha Napp, geb. Scheibner (geb. 1982, Signatur AS 13)
Bronzeprägung, 47,22 g, Dm. 45,3 mm
Prägung: I. Dresdner Medaillenmünze Glaser + Sohn GmbH
Auflage: Bronze 130 Stück – Silber 20 Stück (mit Stempelung »999«), 5 Stück Nachprägungen im Juli 2013 ohne Stempelung, 1 Stück in Gold
LWL-Museum für Kunst und Kultur / Westfälisches Landesmuseum, Inv.-Nr. 39484 Mz
Vor 111 Jahren, am 31. März 1913, wurde in Hamm der »Verein westfälischer Münz- und Medaillenfreunde« gegründet, seit 1920 »Verein der Münzfreunde für Westfalen und Nachbargebiete«, und vor elf Jahren konnte das hundertjährige Bestehen gefeiert werden. Wie bei früheren Jubiläen – 1963 und 2003 – hat der Verein eine ambitionierte Medaille prägen lassen. War es 1963 die Ahlener Medailleurin Anita Blum-Paulmichl (1911-1981) und 2003 der Mindener Designer Hans Werlhof, konnte damals für Entwurf und Modell eine schon mit mehreren Preisen für Prägemedaillen bedachte junge Künstlerin gewonnen werden: Anna Martha Napp, geboren 1982 als Tochter des Künstlerehepaares Hans W. Scheibner und der Malerin Karin Zimmermann. Sie studierte an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle bei Professor Bernd Göbel und arbeitet selbständig in ihrem Heimatort Maßlow in Mecklenburg.
Wie kann eine moderne Prägemedaille überzeugen? Hat sich diese Kunstgattung nicht überlebt, sind die besten modernen Medaillen nicht Güsse, die mehr Gestaltungsfreiheit erlauben? Aber um eine höhere Auflage zu erreichen und auch aus finanziellen Gründen, sollte es eine Prägemedaille werden, und zwar aus dem klassischen Medaillenmetall Bronze, und diese traditionelle Gattung fortführen: mit anspruchsvollen Bildern und tiefsinnigen Aufschriften, die über die glänzende Oberfläche hinaus dem Betrachter zu denken geben sollten. Und Anna Martha Napp hatte im Vorjahr eine entzückende und originelle kleine Gussmedaille auf den Sisyphos-Mythos geschaffen (geglühter Bronzeguss, H. 36,6 x B. 37,3 mm, LWL-Museum für Kunst und Kultur / Westfälisches Landesmuseum, Inv.-Nr. 46506 Mz):
Die Vorderseite zeigt den König von Korinth, der mehrfach den Tod überlistete und dafür zur Strafe in der Unterwelt ewig einen großen Stein einen Berg hoch wälzt, der ihm kurz vor dem Ziel entgleitet und wieder herabrollt – MENSCH ÄRGERE DICH NICHT – und die Rückseite ist wie der Stein rund gewölbt und zeigt die Handabdrücke des Wälzenden: DAS LEBEN IST KOMPLIZIERT ABER ES GEHT VORBEI. Die schwarze Patina passt zum schwarzen Humor – aber damit war eine Idee geboren: Gleicht nicht auch das Tun eines Münzsammlers dem Sisyphos? Und sein runder Stein den runden Münzen? Sind Münzen und Medaillen nicht auf Ewigkeit angelegt, überlistet man mit ihnen den Todesfluch jedes Sterblichen? Und spiegeln nicht Münzsammlungen das Flüchtige, Transitorische?
So beschloss der Vereinsvorstand den Modellauftrag an Anna Martha Napp, die gerade für ihre Prägemedaillen ausgezeichnet worden war. Die Künstlerin hat die Anregung schön umgesetzt: Münzen werden mühevoll einen Berg hinaufgerollt – und rollen wieder herab. Man versucht, eine Sammlung zusammenzubringen – ohne je Vollständigkeit zu erreichen – und das Vereinsleben zu organisieren. Alles wird mühsam vorbereitet und läuft wie am Schnürchen oder auch holperig wie einen Berg hinab: Dies und mehr wird in Bildern eingefangen.
Der Betrachter der Medaille schaut wie auf einen Bildschirm und erkennt sich wieder in dieser Geschichte. Wird eine Sammlung aufgelöst, jagt man den herabrollenden Münzen nach. Den westfälischen Bezug stellen im Hintergrund die westfälischen Dome in Minden und Münster, Osnabrück und Paderborn sowie die Türme der Wiesenkirche in Soest her (oder des Kölner Doms stellvertretend für ein ›Nachbargebiet‹? – Köln war die Bischofsstadt für Westfalen südlich der Lippe, und das Rheinland war bis zur Gründung rheinischer Münzvereine und der Rheinischen Münzfreunde 1956/57 ein ›westfälisches Nachbargebiet‹). Rückseitig steht im Hintergrund der gläserne Elefant, neuerdings das Wahrzeichen des Gründungsortes Hamm. Die gegenseitige Belehrung nach mühsamer numismatischer Forschung beglückt – Geteilte Freude ist doppelte Freude, die zweite Hälfte des Spruches darf man sich dazudenken, wenn etwa Sammler ihr Leid teilend halbieren, indem sie auf potentere Konkurrenten schimpfen, die zum Beispiel die Preise verderben.
Und ist es nicht eigentlich absurd, beprägten Metallplättchen hinterherzujagen oder sich wissenschaftlich mit ihnen abzumühen? Durchschaut man das – wie hoffentlich der Betrachter der Medaille – kann man da nicht mit Albert Camus in seinem Traktat über die Absurdität des Lebens (»Le mythe de Sisyphe«, 1942) den Sammler, den Numismatiker wie Sisyphos »für einen glücklichen Menschen halten«, wenn er dem rollenden Stein hinterherblickt und seine Situation begreift und sie im Verstehen beherrscht? Ein Schuss Selbstironie hilft doch immer in Freud und Leid.
Das erhabene Relief der Vorderseite korrespondiert zum ›Quadratum incusum‹ der Rückseite. Das Spiel mit erhabener und vertiefter Schrift, mit spiegelndem Grund und mattem Relief, die Münzen im Bild, das angeschnittene und kippende Westfalenross: Viele Sinnschichten sind zu entdecken ...
Gerade die Offenheit, die Uneindeutigkeit der Interpretation macht moderne Kunst aus, wie die Auseinandersetzung mit alter Kunst, mit der Gattung, mit Ideen und Literatur, hier der Philosophie. Das Verständnis bildet sich erst im Auge, im Kopf des Betrachters, und es kann sehr individuell und verschieden sein. Thema der Medaille ist nicht nur ein Vereinsjubiläum, sondern allgemein Menschliches: die Kulturtechnik Münzensammeln.
Die Medaille misst 45 mm im Durchmesser und ist hauptsächlich im klassischen Medaillenmetall Bronze geprägt, in einer Auflage von 130 Stück in der I. Dresdner Medaillenmünze Glaser + Sohn GmbH. Die 20 aufgelegten Silbermedaillen, die von der Prägeanstalt eigenmächtig den Gehaltsstempel »999« neben der Künstlersignatur erhalten hatten, waren so schnell vergriffen, dass zur Erledigung letzter Bestellungen im Juli 2013 noch fünf Stück nachgeprägt wurden, aber ohne den Gehaltsstempel; außerdem wurde auf den Wunsch eines Mitgliedes für ihn noch ein Exemplar in Gold hergestellt.
(Gerd Dethlefs)
Literatur
- G. Dethlefs – P. Ilisch – S. Wittenbrink (Hrsg.), Westfalia Numismatica 2013. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Vereins der Münzfreunde für Westfalen und Nachbargebiete (Osnabrück 2013) S. 2 (Abb. des Modells), S. 8 und 62.
- G. Dethlefs, Anna Martha Napp. 100 Jahre MWN, Numismatisches Nachrichtenblatt 62. Jg. H. 8, 2013, S. 306.
- Eintrag im Portal der Deutschen Gesellschaft für Medaillenkunst e.V.: unter http://www.medaillenkunst.de/index.php?medaille_id=617
und mit weiteren Hinweisen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Sisyphos (zur Figur aus der griechischen Mythologie)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Mythos_des_Sisyphos (zum Essay von Albert Camus)