August 2022
August 2022

Münze des Monats

© Robert Dylka

Unter dem Vulkan. Die treue Pflicht der Elternliebenden

Katane (Sizilien), ca. 2./1. Jahrhundert v. Chr. (2,34g / 12 Uhr / 15mm)

Vs. Einer der katanischen Brüder (Amphinomos?) geht n. r. und trägt seinen Vater auf den Schultern.

Rs. KATA-[ΝΑΙΩΝ]. Der andere der katanischen Brüder (Anapias?) geht n. l. und trägt seine Mutter auf den Schultern.

Münzsammlung des Archäologischen Museums der Universität Münster, Inv. M 3876

 

Das erste, was dem Betrachter dieser Münze ins Auge fällt, dürfte wohl der schlechte Erhaltungszustand sein. Doch aus Respekt vor der hohen moralischen Aussage des Münzbildes – um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen – wollen wir darüber hinwegsehen. Zum Trost sei bemerkt, dass es kaum bessere Stücke gibt.

Die Münze ist im Rahmen einer größeren Schenkung hellenistischer Prägungen durch den Bochumer Arzt Dr. Horst Rosenberg (1926-2015) im Jahre 2008 in den Bestand des Archäologischen Museums der Universität Münster gelangt.

Als Prägeort ist auf der Rückseite Katane, das heutige Catania, angegeben, eine Stadt an der Ostküste Siziliens am Fuße des Ätna, des größten und immer noch aktiven Vulkans Europas. Der Prägezeitraum lässt sich nur ungefähr auf das 2. oder 1. Jahrhundert v. Chr. eingrenzen.

Das Münzbild illustriert eine in der Antike allseits bekannte Geschichte zweier Brüder, der sog. pii fratres, die uns von fast zwei Dutzend Autoren vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. überliefert ist. Lykurgos betont in seiner Rede gegen Leokrates (or. contra Leocratem 95) einerseits den legendenhaften Charakter, andererseits den Wert der Erzählung gerade für die Jugend. In der Zusammenschau sämtlicher Autoren (s. die Auflistung am Ende) ergibt sich das folgende Bild:

Bei einem Ausbruch des Ätna in unbestimmter Zeit, nur Claudius Aelianus (var. hist., frg. 2 Hense IV 626) gibt das Jahr 456 v. Chr. an, schob sich ein alles vernichtender Lavastrom auch auf Katane zu. Ringsum brannten die Felder und Wälder, rotglühend war der Horizont. Die Lava wälzte sich weiter talwärts, kam für viele schneller als es der erste Augenschein vermuten ließ. In Panik rafften die Bewohner ihre Habseligkeiten zusammen, sammelten ihre Gerätschaften, Waffen und andere Kostbarkeiten. Wieder andere nutzten die Gelegenheit und plünderten. So ging viel wertvolle Zeit verloren und durch ihre Lasten waren sie obendrein nicht flink genug, der tödlichen Glut zu entkommen. Sie verbrannten alle, ihre Habseligkeiten war ihnen unnütze Bürde.

Zwei junge Männer, in den meisten Quellen mit Amphinomos und Anapias benannt, bemerkten indes, dass ihre Eltern, langsam und alt, auf der Schwelle ihres Hauses niedergesunken waren. Schnell entschlossen griffen sie sich Vater und Mutter, um sie vor dem sicheren Tod zu schützen. Aber auch sie kamen unter ihrer ehrwürdigen Last nur schleppend voran, die Flammenströme würden auch sie bald erreichen, doch sie setzten ihre Eltern nicht ab. So waren wohl die Götter beeindruckt von so viel wahrer Elternliebe. Es teilte sich der schon gefährlich nahe Glutstrom hinter ihnen und umfloss sie rechts und links und wich dann auch vor ihnen aus. Einzig sie allein kamen mit dem Leben davon, blieben unversehrt.

In Katane wurden sie über Jahrhunderte wegen ihrer Eusebeia (lat. pietas) verehrt, am vermeintlichen Ort des Geschehens wurde ein Heiligtum errichtet, geschmückt mit Statuen aus Stein (Konon narr. 43), später wohl aus Bronze (Claudianus carm. min. 17). Die Stadt gab im 2./1. Jahrhundert v. Chr. eine Reihe von Kleinbronzen aus, Romolo Calciati unterscheidet vier Emissionen, die zumindest auf Sizilien selbsterklärend waren. Gut 100 Jahre später (um 40 v. Chr.) griff Sextus Pompeius das Thema noch einmal auf, da er mit der „Moral von der Geschicht“ seine Pläne der Weiterverfolgung der Ziele seines Vaters mit der unbedingten Liebe zum Vater untermauern konnte (RRC 520 Nr. 511,3, Abb. 1):

Abb. 1: Denar des Sextus Pompeius Magnus Pius mit seinem Vater Gnaeus Pompeius Magnus auf der Vs. und Neptun flankiert von den katanischen Brüdern auf der Rs., Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Objektnummer 18207996
© Dirk Sonnenwald

Die Vorderseite zeigt den Kopf des Cn. Pompeius (106-48 v. Chr.), die Rückseite verbindet den Anspruch des Sextus als Beherrscher der Meere in Gestalt des Neptun mit seiner Verpflichtung gegenüber dem Vater (pietas), dargestellt durch die flankierenden katanischen Brüder.

Ein Beweis für die große Bekanntheit dieser anrührenden Erzählung in der gesamten antiken Welt ist die Tatsache, dass sowohl griechische als auch römische Autoren aus allen Teilen der Mittelmeerwelt sich der Geschichte bedienten, oft nur in Andeutungen, wie bei Martial (7,24) und Silius Italicus (14,196 f.), was offensichtlich verstanden wurde.

Die Anthologia Palatina (4.-6. Jahrhundert n. Chr.) überliefert uns im 3. Buch Epigramme, die sich auf Säulenbilder (sog. Stylopinakia) aus Kyzikos beziehen. Diese befanden sich am Tempel der Apollonis, der Mutter der Pergamenischen Könige Attalos II. und Eumenes II. Die beiden Königskinder wählten dafür Motive, die ihre Elternliebe illustrierten, zumindest ihre Liebe zur Mutter, darunter auch die Erzählung von den katanischen Brüdern. Erhalten hat sich bei diesem Motiv nicht das Epigramm, wohl aber die vorangeschickte Bildbeschreibung: „Auf der siebzehnten [Säule] sind Anapias und Amphinomos dargestellt, die bei einem Vulkanausbruch auf Sizilien nichts anderes als ihre Eltern rettend durchs Feuer forttrugen (Cyz. Epigr. 17, übers. H. Beckby). Aus der lokalen Erzählung wurde also mit der Zeit und im gesamten antiken Raum ein Allgemeinplatz, wie auch eine griechische Inschrift für einen Brunnen auf Euböa belegt, die sich dem hohen Ansehen der beiden Brüder bedient (IG XII 9,13, add. P. VII).

Zum Schluss sei noch die republikanische Prägung des Münzmeisters M. Herennius erwähnt (Abb. 2),

Abb. 2: Denar des M. Herennius mit Pietas auf der Vs. (die Beischrift PIETAS links i.F. ist wegen der dezentrierten Prägung außerhalb des Schrötlings) und einem der katanischen Brüder (oder Aeneas?) auf der Rs., Slg. M. Fehlauer
© Robert Dylka

der im Jahre 108/107 v. Chr. Denare prägen ließ, die auf der Vorderseite den Kopf der Pietas zeigen und auf der Rückseite einen nackten (jugendlichen) Mann, der einen offensichtlich älteren (bekleideten) auf seinen Schultern trägt (RRC I 317 Nr. 308,1). Hier könnte es sich auch um Aeneas handeln, der seinen Vater Anchises aus dem brennenden Troja trägt.

Schöner als auf unserem Münzbild kann man gelebte Eusebeia (lat. pietas) kaum darstellen. Durch eine innere Pflicht, die nicht reklamiert werden muss, bringt der Mensch seinen Eltern (den nächsten Verwandten, dem Herrscher und seinen Mitmenschen) den gebührenden Respekt und ein Bewusstsein der Verantwortung entgegen. Indem er sich so verhält, wie es die Tradition in den sozialen Beziehungen vorschreibt, ehrt er ganz von selbst auch die Götter.

(Michael Fehlauer)

 

Quellen

Lykurgos, Oratio contra Leocratem 95 f. – Pseudo-Aristoteles, De mundo 400a 33-400b 6. – Pseudo-Aristoteles, De mirabilibus auscultationibus 154. – Diodorus Siculus, Bibliotheca historica 20,101,3. – Konon, Narrationes 43. – Strabon, Geographica 6,2,3 oder 6,269. – Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia 5,4 ext. 4. – L. Annaeus Seneca, De beneficiis 3,37,2. – Appendix Vergiliana: Aetna 604-646. – Martial, Epigrammata 7,24. – Silius Italicus, Punica 14,196 f. – Hyginus, Fabulae 254 a. – Apuleius, De mundo 34. – Pausanias, Descriptio Graeciae 10,28,4. – Claudius Aelianus, Varia historia Frg. 2 aus Stobaeus, Florilegium 4,25,38. – Flavius Philostratos, Vita Apollonii 5,17. – Gaius Iulius Solinus, Collectanea rerum memorabilium 5,15. – Decimus Magnus Ausonius, Ordo urbium nobilium 16/17. – Claudius Claudianus, Carmina minora 17. – Anthologia Palatina III 17.

Literatur

  • LIMC I,1 (1981) 717 f.; I,2 571 s. v. Amphinomos et Anapias (C. Arnold-Biucchi)
  • R. Calciati, Corpus nummorum Siculorum. La monetazione di bronzo III (Mailand 1987) 97-100
  • E. Ciaceri, Culti e miti nella storia dell’antica Sicilia (Catania 1911) bes. 50-54
  • A. Holm, Geschichte Siciliens im Alterthum I-III (Leipzig 1870-1898) bes. I (1870) S. 25 f. und S. 339 (Komm.)
  • C. Perassi, I Pii Fratres e il Pius Aeneas. Problemi circa l’iconografia di monete della Sicilia e dell’età repubblicana romana, Aevum 68, 1994, 59-87
  • R. Stupperich, Zu den Stylopinakia am Tempel der Apollonis in Kyzikos, in: E. Schwertheim (Hrsg.), Mysische Studien, AMS 1 (Bonn 1990) 101-109