Daniel Stracke
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Stadtansichten

Ihr Überlieferungs- und Detailreichtum macht bildliche Stadtdarstellungen zu einer grundlegend wichtigen Quellengattung für die Rekonstruktion des Aufrissbildes vormoderner Städte. Als solche werden Stadtansichten allerdings oft allzu leichtfertig zur Illustration eines angenommenen Ist-Zustandes herangezogen, ohne sie auch entsprechend quellenkritisch zu beleuchten. Anhaltspunkte für die Quellenkritik mögen einige Hinweise zur Medien- und Produktionsgeschichte geben.

Stadtdarstellungen aus dem Mittelalter sind nicht realistische Wiedergaben des Gesehenen, sie erscheinen überwiegend verkürzt und symbolhaft. Die mehr oder weniger freie Komposition schematischer Stadtarchitektur der Tafel- und Buchmalerei sowie der Holzschnitte in Einblattdrucken sind nur stellenweise mit Hilfe von Wappen oder kennzeichnenden Bauelementen individualisiert und ansonsten austauschbar. Erst die italienische Frührenaissance brachte mit der Erfindung der Zentralperspektive und einer neuen Faszination für detailreiche Beobachtung ab Mitte des 15. Jhs. wirklichkeitsgetreuere Städtebilder hervor. Seit den 1470er Jahren entstanden – zunächst von italienischen Städten – gemalte Gesamtansichten. Das neue Genre wurde bald auch in der Druckgraphik aufgegriffen und erlangte durch den wohl im zweiten Viertel des 15. Jhs. in Nordeuropa entwickelten Kupferstich und nach 1500 durch Kaltnadel(radierung) und Ätzradierung weite Verbreitung. Im Verlauf des 16. und 17. Jhs. wurden nahezu alle damals bedeutenden europäischen Städte auf diese Weise im Bild erfasst.

Die Reproduktion von Stadtansichten in druckgraphischen Massenmedien – und dies ist die übliche Form – war schon in der Frühen Neuzeit ein kommerzielles Unternehmen, das durch einzelne Künstler, Verleger oder Werkstätten betrieben wurde. Die bekanntesten Werke sind die „Civitates Orbis Terrarum“ (ab 1572) von Georg Braun (DNB) und Franz Hogenberg (DNB) und die „Topographia Germaniae“ (ab 1642) aus der Werkstatt des Matthäus Merian (DNB). Dafür wurden zunächst gezeichnete Stadtdarstellungen in Auftrag gegeben oder auch bereits vorhandene, ältere Bilder beschafft, auf deren Basis die Druckplatten angefertigt wurden. Die Stadtdarstellungen in den Sammelwerken stammen somit aus unterschiedlichen Quellen und stellen in der Regel Bearbeitungen vorhandener Zeichnungen dar, was Auswirkungen sowohl auf die Datierung der Stadtdarstellung als auch auf die dargestellten Inhalte haben kann.

Bereits die Vorzeichnungen wurden aber nicht streng realistisch, sondern entsprechend den Darstellungskonventionen und Sehgewohnheiten ihrer Zeit ausgeführt. Oftmals erschien es den Zeichnern nötig, den Standort zu wechseln, um alle interessanten Details des Stadtpanoramas aufnehmen zu können. Im Endprodukt vereinigten sich somit Teile zu einer einzigen Ansicht, die so „in der Natur“ nicht existierte. Um der Bildharmonie willen war es nicht ungewöhnlich, auch der Stadtbefestigung weitere, realiter nicht existente Türme hinzuzufügen.

Es war das absatzfördernde Bestreben der Künstler, die jeweilige Stadt als besonders prächtig, wehrhaft, reich und wohlgeordnet zu präsentieren. Das augenfälligste Mittel dafür war die Übertreibung, die unproportionale Überhöhung der Kirch- und Mauertürme wie überhaupt der gesamten Stadtbefestigung. Dem gegenüber steht die zumeist schematische Behandlung der übrigen Bauwerke. Die Wohnhäuser wurden überwiegend mittels vereinfachter Dachsignaturen dargestellt, die keinen Rückschluss auf die reale Baugestalt zulassen und deren flächenhafte Verteilung die zeitgenössische Straßenführung in der Stadt nicht zu erkennen gibt.

An anderen Stellen erhöht Detailreichtum die Suggestivkraft der Bilder; dazu gehört auch die stereotyp eingesetzte Staffage von Personen in unterschiedlichen Gewändern und Tätigkeiten. Die Stadt ist in dieser Darstellungsform eingebettet in eine Landschaft aus Bergen, Tälern, Ebenen, Wäldern und Flüssen, Straßen und Wegen, die künstlerisch ersonnen wurde, um das Stadtbild wirkungsvoll zu inszenieren, die aber oftmals nur entfernte Ähnlichkeit mit der realen Topographie des Stadtumlandes aufweist.

Mit der Übertragung der Vorzeichnungen auf die Druckplatten nahm eine komplizierte und selten im Einzelnen zu rekonstruierende Veränderungsgeschichte ihren Anfang. Zur Erzeugung eines räumlichen Tiefeneindrucks wurden Flächen in Vorder- und Hintergrund geteilt, durch den Einsatz von Helldunkelkontrasten erhöhte der Stecher die künstlerische Wirkung der Stadtdarstellung. Vor allem die Künstler der Werkstadt Merian brachten die Verwendung solcher Ausdrucksmittel zu großer Perfektion; mit dem paradoxen Ergebnis, dass ihre Darstellungen, die in der Regel ohne eigene Ortskenntnis entstanden sind, oftmals einen „realistischeren“ Eindruck vermitteln, als die Vorlagen, nach denen sie gearbeitet wurden. Die kostbaren Druckplatten wurden später häufig für Neuauflagen oder zur Illustration ganz anderer Werke wiederverwendet. Je nach ihrem Abnutzungsgrad konnten sie dazu wieder aufgearbeitet werden; Ätzradierungen wurden „aufgestochen“, um die Kontraste zu verstärken, Baudetails und Bildelemente wie Schriftbänder oder Wappen wurden hinzugefügt oder verändert.

Zwar wurden Druckwerke in der Frühen Neuzeit mit herrscherlichem Privileg hergestellt; ein wirksamer Schutz von Urheberrechten war damit jedoch nicht gegeben. So wurden attraktive Darstellungen von Konkurrenzunternehmen kopiert und nachgedruckt, wobei häufig phantasievolle Änderungen im Detail erfolgten, die wiederum das Bild von seinem Darstellungsobjekt – einer bestimmten Stadt – entfremdeten. In dieser Art wurden die in den „Civitates“ von Braun und Hogenberg enthaltenen, erstklassigen Stadtdarstellungen mehrfach kopiert, wobei nicht zuletzt der Wechsel ins billigere Medium des Holzschnittes bei den Bildern der „Cosmographia“ des Sebastian Münster (DNB) zu starkem „Realitätsverlust“ der Stadtdarstellungen führte.

Anhand der hier aufgezeigten zeitgenössischen Filter, die den Fertigungsprozess der Stadtansichten beeinflussten und aufgrund der vielfältigen Bearbeitungsschritte, die sie durchliefen, lässt sich erahnen, dass die in Sammelwerken enthaltenen Darstellungen selten ein realistisches Abbild der alten Stadt wiedergeben. Es sollte auch deutlich geworden sein, dass das Erscheinungsjahr eines solchen Druckwerkes nur sehr begrenzte Aussagen zu dem Zeitpunkt liefert, zu dem die Stadt zeichnerisch abgebildet wurde; es bietet lediglich einen Terminus ante quem.

Trotz dieser Einschränkungen ist die Verwendung von Stadtansichten in der topographischen und bauhistorischen Forschung geboten und fruchtbar, sofern sie mit methodischer Vorsicht erfolgt. Wie bei der Interpretation von schriftlichen Geschichtsquellen ist die Bildquelle danach zu befragen, wer der Urheber der Darstellung war und welche Absichten er damit verfolgte, auf welche Weise und in welchem Medium sie für welchen Auftraggeber oder welches Publikum geschaffen wurde; ferner ist zu fragen, welche Erwartungen, Sehgewohnheiten und Konventionen dabei berücksichtigt werden mussten, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, und schließlich, wie die einzelne Quelle vor dem Hintergrund der bekannten Überlieferung insgesamt einzuordnen ist.

Daniel Stracke (1.9.2014)

Literaturhinweise

  • Behringer, Wolfgang/Roeck, Bernd (Hg.): Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400–1800, München 1999.
  • Gräf, Holger Th.: Vom dekorativen Wandschmuck zur historischen Quelle – zur Konjunktur der Stadtansichten in der Geschichtswissenschaft, in: Das Ansehen der Stadt Halle in historischen Ansichten, hg. v. Thomas Müller-Bahlke/Holger Zaunstöck, Halle a.d. Saale 2009, S. 25–37.
  • Jacob, Frank-Dietrich: Historische Stadtansichten. Entwicklungsgeschichtliche und quellenkundliche Momente, Leipzig 1982.
  • Jaritz, Gerhard: Das Image der spätmittelalterlichen Stadt. Zur Konstruktion und Vermittlung ihres äußeren Erscheinungsbildes, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Festschrift für Karl Czock zum 75. Geburtstag, hg. v. Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich, Leipzig 2001, S. 471–485.
  • Luckhardt, Jochen/Schmitt, Michael: Realität und Abbild in Stadtdarstellungen des 16.–19. Jahrhunderts. Untersuchungen am Beispiel Lippstadt (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 31), Münster 1982.
  • Opll, Ferdinand (Hg.): Bild und Wahrnehmung der Stadt (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, XIX), Linz 2004.
  • Schmitt, Michael: Town Views seen as a Source of Urban History, in: Universitas 27 (1985), no. 2, S. 125–130.
  • Schmitt, Michael: Vorbild, Abbild und Kopie. Zur Entwicklung von Sehweisen und Darstellungsarten in druckgraphischen Stadtabbildungen des 15. bis 18. Jahrhunderts am Beispiel Aachen, in: Civitatum Communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, Teil 1, hg. v. Helmut Jäger [u.a.], Köln/Wien 1984, S. 322–354.
  • van der Linden, Fons: DuMont’s Handbuch der grafischen Techniken, Köln 1983.

Diese und weitere Literaturangaben sind zu finden in der Mediensuche.