Industrialisierung
Das industrielle Zeitalter konfrontierte die Städte West- und Mitteleuropas mit gravierenden strukturellen Veränderungen, die sich in erster Linie auf die Wirtschafts- und damit auch auf die Gesellschaftsordnungen und das Stadtbild auswirkten. Das Ursprungsland der Industrialisierung war England, wo im 18. Jh. technische Innovationen wie die Dampfmaschine eine maschinelle Erzeugung von Gütern und damit eine neue Form des Wirtschaftswachstums ermöglichten. Die meisten europäischen Staaten wurden vom Prozess der Industrialisierung zwischen der Mitte des 19. Jhs. und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 erfasst. Deutschland durchlief eine frühindustrielle Phase (ca. 1840–1870) sowie eine hochindustrielle Phase (1870–1914) und wurde in dieser Zeit ein moderner Industriestaat, dessen Industrieproduktion vor England Spitzenwerte in Europa erreichte.
In Deutschland war es der Eisenbahnbau, der die Industrialisierung entscheidend vorantrieb und vielen Städten wichtige wirtschaftliche Impulse bescherte. Die Nachfrage der Eisenbahn forcierte den Aufschwung der Montan- und Maschinenbauindustrie, gleichzeitig ermöglichte die verbesserte Verkehrsinfrastruktur eine bessere Marktintegration. In England existierte seit 1830 zwischen Manchester und Liverpool die erste Zugverbindung, in Deutschland 1835 zwischen Nürnberg und Fürth. Die wirtschaftlichen Strukturveränderungen durch die Industrialisierung, die agrarische Überschussproduktion und eine seit Ende des 18. Jhs. einsetzende Bevölkerungsexplosion führten im 19. Jh. zu einer rasanten Urbanisierung (Verstädterung), d.h. der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung stieg immens. Neue, besser bezahlte Arbeitsplätze in der Textil- oder Montanindustrie sowie zunehmend auch im Dienstleistungssektor, die sinkenden Arbeitsmarktrisiken, die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten sowie Kultur- bzw. Vergnügungsangebote in den Städten einerseits (Pull-Faktoren) und Bevölkerungsdruck sowie Armut auf dem Land andererseits (Push-Faktoren) bewirkten in West- und Mitteleuropa eine Landflucht in die Städte. In England setzten die Wanderungsbewegungen bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. ein, in Deutschland v.a. während der Hochindustrialisierungsphase ab 1871. Es waren vorwiegend junge, männliche und ungebundene ‚Stadtwanderer‘, die aus dem Norden und Nordosten Deutschlands in die Industriegebiete des Ruhrgebiets und Oberschlesiens sowie in die Städte Berlin, Hamburg, München und das Rhein-Main-Gebiet kamen. Die Binnenwanderung und das Bevölkerungswachstum – zwischen 1871 und 1914 wuchs die deutsche Bevölkerung um 58 % von 41 Mio. auf 65 Mio. Menschen – bewirkten im Vergleich zu ländlichen Regionen ein überproportionales Städtewachstum, das sich v.a. auf die Industrie- und Handelszentren fokussierte. Der Anteil der Deutschen, die in Städten mit weniger als 2.000 Menschen lebten, sank von 64 % auf 40 %, während die Einwohnerzahlen der größeren Orte wuchsen. Der Anteil der Bevölkerung, der in Städten von mehr als 10.000 Einwohnern lebte, verdreifachte sich beinahe von 1871 bis 1910, während der Bevölkerungsanteil in Städten von mehr als 100.000 Einwohnern um mehr als das Siebenfache wuchs. In dieser Zeit überschritten 48 deutsche Städte die Großstadtgrenze von 100.000 Einwohnern (z.B. Frankfurt a. M., Dortmund, Düsseldorf, Danzig, Kiel, Kassel, Mannheim oder Nürnberg).
Die Bevölkerungsverschiebungen führten seit Mitte des 19. Jhs. in zahlreichen Städten zu einer enormen Verdichtung. In Köln bspw. konzentrierte sich das Bevölkerungswachstum zwischen 1820 und 1880 ausschließlich auf die Stadt innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer, wodurch sich die Bevölkerungsdichte der Stadt zwischen 1820 und 1880 auf 35.910 Einw./km² erhöhte. In London waren es zur selben Zeit nur 9.600 Einw./km². Da sich in der Frühphase der Industrialisierung auch Industriebetriebe innerhalb des Stadtgebiets ansiedelten, kam es zu einer Überbeanspruchung des Wohnraums. Grün- und andere Freiflächen wurden in Bauland umgewandelt, und tlw. wuchsen die Städte in die Vertikale. In Liverpool bspw. lebte 1840 jeder siebte Einwohner in einer Kellerwohnung. Der Bevölkerungsdruck und die enge räumliche Bebauung der Städte führten zu hygienischen und sozialen Missständen; große Teile von Städten wie z.B. Manchester verkamen zunehmend zu Slums. Auch in Berlin herrschten noch in den 1870er Jahren in weniger gehobenen Vierteln katastrophale hygienische Bedingungen.
Das Städtewachstum nach innen erfolgte trotz der Öffnung der meisten Städte durch das Auflassen und die Niederlegung der Mauern und Befestigungen seit dem ausgehenden 18. Jh. Erst allmählich wuchsen die Städte über ihren ehemals klar erkennbaren Rand hinaus. Erste Erweiterungen erfuhren Städte, als wohlhabendere Bürger ihre nun in der Altstadt liegenden Wohnungen aufgaben und an den Stadtrand zogen, wodurch neue Villenviertel entstanden. Vermehrt siedelten sich seit der Mitte des 19. Jh. auch Betriebe an den Stadträndern an. Ebenfalls außerhalb der alten Stadtkerne entstanden aus Platz- und Kostengründen die Bahnhöfe, um die sich Bahnhofsviertel bildeten, deren wirtschaftliche Grundlage häufig Groß- und Einzelhandel, Gastronomie und Hotelgewerbe sowie Vergnügungseinrichtungen waren. Die Stadträume jenseits der Bahntrassen lagen jedoch in einer „Schattenlage“ der Stadtentwicklung; hier entstanden vielfach Problemviertel.
In Deutschland vollzog sich das Außenwachstum der Städte i.d.R. planvoller als bspw. in England, da Neustädte meist am Reißbrett entworfen wurden. Sie umfassten Altstädte in Form von Kreisringen (z.B. in Berlin), Halbkreisen (z.B. in Köln) oder platzierten sich als neues Viertel an den Rand der Altstädte. Die neuen Arbeiterviertel befanden sich verstärkt in der Nähe von Bahnhöfen und waren in Teilen Deutschlands durch den Bau von mehrstöckigen „Mietskasernen“ geprägt, der in Berlin seine größten Ausmaße erreichte. Die Gründe für den Bau von Mietskasernen waren u.a. mangelndes Bauland. In England entstanden für die Arbeiter zunächst monotone „Back-to-Back“-Reihenhäuser, die den Bewohnern wenig Platz und keinen Anschluss an die Kanalisation boten. Die Folge waren schlechte hygienische Bedingungen und Typhus- sowie Choleraepidemien in den 1830er/40er Jahren. In der Zeit zwischen den 1870er Jahren und dem Ersten Weltkrieg wurde das Außenwachstum englischer Städte mit den sog. ‚Bye-law-Häusern‘ fortgesetzt, die eine geringere Wohndichte aufwiesen und über bessere sanitäre Anlagen verfügten. Dieses Außenwachstum industrieller Städte führte teilweise über den Stadtbezirk hinaus, wodurch Vorstädte entstanden. Sie entzogen den Kernstädten zahlungskräftige Steuerzahler und Gewerbesteuer zahlende Betriebe, weshalb es häufig zu Eingemeindungen kam – in Deutschland v.a. zwischen 1885 und 1918. Da die Stadtkerne ihre Bevölkerung zunehmend an die Peripherie verloren, veränderte sich ihre Struktur.
Englische Unternehmer entwickelten im 19. Jh. mit Werksiedlungen für ihre Arbeiter neue Siedlungsformen. Diese entstanden außerhalb der eigentlichen Stadt und waren nicht zuletzt wegen günstigerer Bodenpreise großzügiger angelegt und boten saubere und weniger verdichtete Häuser.
Auf die zahlreichen Missstände im Wohnungswesen und ihre sozialen und politischen Implikationen reagierten bürgerliche Sozialreformer. Auch die von Ebenezer Howard (DNB) geprägte Gartenstadtbewegung steht in diesem Kontext. Sie beinhaltete großzügigere Wohnungen bzw. Häuser mit eigenem Garten zur Selbstversorgung für eine begrenzte Anzahl von Menschen, die in unmittelbarer Nähe zur Stadt – aber durch Grüngürtel getrennt – wohnen und sämtliche zentralen Versorgungsmöglichkeiten durch kurze Wege erreichen sollten. Die ersten deutschen Gartenstädte entstanden mit der Krupp-Arbeiterwohnsiedlung Margarethenhöhe in Essen (1906 gegründet) und in Dresden Hellerau um die „Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst“ (1909 gegründet), die jeweils Raum für Kleinfamilien boten. Die Änderung der Familienstruktur und -größe war eine Folge der Lebensumstände in den Städten, denn die rasche Ausweitung der Massenproduktion bedeutete das Ende der Heim- und Manufakturarbeit, und die Wohnraumsituation führte zur langfristigen Auflösung der Großfamilien zugunsten der Kernfamilie. Die häufig vorherrschende Einheit von Wohnen und Arbeiten wurde durch die Industrialisierung aufgebrochen.
Die Industrialisierung und Urbanisierung veränderten nicht nur das architektonische Stadtbild Europas, sie verlangten von den städtischen Verwaltungen auch neue Konzepte, die der rasanten Entwicklung in den Städten Rechnung trugen. Erst ab ca. 1850 bis 1875 begannen in Deutschland die Anfänge einer kommunalen ‚Städtetechnik‘, um Antworten auf die neuen infrastrukturellen, hygienischen und sozialen Herausforderungen zu geben versuchte, die sich auf die folgenden Bereiche konzentrierte:
1. Technische Versorgung: Gas, Elektrizität
2. Infrastruktur: Nahverkehr
3. Hygiene und Gesundheitswesen: Müllbeseitigung, Wasserversorgung, Kanalisation, Aufsicht über prekäre Arbeitsorte (z.B. Schlachthöfe) und Lebensmittel, Straßenreinigung
4. Sozialpolitik
Die neuen kommunalen Innovationen setzten sich allmählich, zunächst vornehmlich in Großstädten durch. Leuchtgas brachte Licht in die Städte Europas. Die Straßenbeleuchtung, die bisher durch Pflanzenöllaternen erzeugt worden war, wurde nun durch Gas betrieben. Seit 1825 gab es in Berlin das erste Gaswerk, anschließend in Hannover, Dresden und Leipzig. Da viele Städte dem Beispiel folgten, gab es bis in die 1850er Jahre einen Gründungsboom von Gaswerken, die die Nachfrage nach Leucht-, Heiz- und Kochzwecken deckten. Da die privat betriebenen Gaswerke ihre Monopolstellung zugunsten einer oftmals rücksichtslosen Preispolitik nutzten, wurden sie von den Stadtverwaltungen zunehmend kommunalisiert. Im Jahre 1880 besaßen in Deutschland wie in anderen Industriestaaten alle großen Städte und auch viele kleine Städte ein Gasversorgungsnetz.
In Deutschland begann seit den 1850er Jahren – 20 Jahre später als in England – in Städten wie Hamburg, Berlin, München und Frankfurt der Bau von Entwässerungssystemen, nachdem es zuerst in England und später auf dem europäischen Festland zu Choleraepidemien als Folge von unzureichender Entwässerung und kontaminiertem Trinkwasser gekommen war. In England verabschiedete man den „Public Health Act“, der die Errichtung von städtischen Gesundheitsbehörden anordnete. Ab 1875 wurden in den Arbeitervierteln deswegen komfortablere Wohnungen gebaut, die über Kanalisation und Wasseranschluss verfügten. Die Entwässerungssysteme in Deutschland waren zunächst meist unzureichend und konnten erst modernisiert werden, als seit den 1870er Jahren die Verbreitung moderner Wasserversorgungsanlagen in Deutschland deutlich zunahm. Neue kommunale Wasserwerke stellten Trinkwasser bereit und lösten Brunnen in ihrer Funktion als Trinkwasserversorger ab. Mit den neuen Leitungen konnten auch Entwässerungssysteme modernisiert werden. Schwemmkanalisationen wurden entwickelt, die den schlechten hygienischen Verhältnissen auf den Straßen Europas ein Ende bereiteten. Sie regelten zunächst den Abfluss von Haushalts- und Industrieabwässern und später auch von Fäkalien – Abwässer, die vormals einfach auf den Straßen entsorgt wurden. Die letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jh. und die ersten Jahre nach der Jahrhundertwende waren die Hauptzeit der Errichtung der Schwemmkanalisationen in deutschen Städten. Mit der Anlage von Friedhöfen an der Peripherie der Städte, der Straßenreinigung, der Einrichtung von Kläranlagen seit etwa der Jahrhundertwende sowie der Einrichtung von zentralen Schlachthöfen sorgte die öffentliche Hand für weitere gesundheitspolitische Maßnahmen.
Die räumliche Expansion der Städte während der Industrialisierung verlangte zudem nach leistungsstärkeren Nahverkehrsmitteln als Pferdebahn und Pferdekutsche. Dampfstraßenbahnen ermöglichten höhere Geschwindigkeiten, konnten sich in den Städten aber nicht durchsetzen. Die Zukunft gehörte dem elektrisch angetriebenen Nahverkehr. Die erste elektrische Untergrundbahn fuhr 1879 in London, die erste elektrische Straßenbahn ging 1881 in Berlin in Betrieb. Elektrische Oberleitungsbusse verkehrten in Europa seit dem frühen 20. Jahrhundert. Elektrizität war zudem eine Alternative zum Leuchtgas und sie ermöglichte die Erfindung des Telefons.
Auch die Sozialleistungen mussten den neuen Gegebenheiten angepasst werden. Die noch in der Frühen Neuzeit auf individueller Hilfe basierende Armenverwaltung konnte der strukturellen Armut ganzer Bevölkerungsschichten (Pauperismus) nicht mehr genügen. Seit der Jahrhundertwende ersetzten professionelle Fürsorger zunehmend ehrenamtliche Armenpfleger, und das Armenwesen der Städte wurde stärker zentralisiert. Seit 1919 löste die Bezeichnung ‚Fürsorge‘ die ‚Armenpflege‘ ab.
Die beschriebene Tendenz der Städte, Betriebe zu kommunalisieren und Dienstleistungen zu erweitern, wirkte sich auf die kommunalen Verwaltungen aus. In den ersten beiden Dritteln des 19. Jh. hatte sich der Aufgabenbereich v.a. kleinerer Städte vornehmlich auf die Hoheits- und Vermögensverwaltung konzentriert. Dies änderte sich nun, und langsam kam es zu einer quantitativen Zunahme der städtischen Beamten und Angestellten, die mit einer qualitativen Verbesserung im Sinne von Bürokratisierung, Professionalisierung und zunehmender Spezialisierung einherging. Dieser Umgestaltungsprozess zu einer „kommunalen Leistungsverwaltung“ vollzog sich in Deutschland zwischen 1870 und 1930 – beschleunigt seit den 1880er Jahren. Dieser Prozess und das Selbstverständnis einer vermeintlich ausschließlich an Sachkenntnis und Sachgerechtigkeit orientierten Stadtbürokratie dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Maßnahmen stets auch die Interessen der in den Kommunalparlamenten sitzenden Bürger spiegelten.
Joel Behne/Thomas Tippach (1.9.2014)