Boccaccios Decameron oder die Kunst des Erzählens als Remedium gegen die Pest
Von Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Pia Claudia Doering (Romanistik)
Boccaccios Novellensammlung, die um 1350, also zur Zeit der Großen Pest, entsteht, beginnt mit einer der berühmtesten Pestdarstellungen der europäischen Literatur. Eindringlich schildert die Autorfigur, wie die Seuche das gesellschaftliche Leben in der Stadt Florenz zum Erliegen bringt. Zwar steigt die Zahl der Ärzte rasant an, doch stimmen sie keineswegs in ihrer Expertise überein, einige von ihnen haben nicht einmal eine medizinische Ausbildung, und allen ist gemeinsam, dass sie kein Heilmittel gegen die Krankheit finden, weil sie deren Mechanismen letztlich nicht verstehen. Aber nicht nur die Medizin gelangt an ihre Grenzen, auch Politik, Recht und Religion versagen angesichts der Pest: Die Gesetze verlieren an Autorität, da niemand ihre Einhaltung überwacht. Totenwachen und christliche Begräbnisse finden angesichts der großen Todeszahlen und aus Angst vor Ansteckung nicht mehr statt. Die Priester machen sich nicht mehr die Mühe, ein feierliches Totenamt abzuhalten, sondern überlassen es der neuen Berufsgruppe der becchini, die Leichen gegen Bezahlung in Massengräbern zu verscharren. Am drastischsten jedoch zeigen sich die Folgen der Pest innerhalb der kleinsten gesellschaftlichen Struktur, der Familie: Die Angst vor Krankheit und Tod veranlasst die Menschen, ihre erkrankten Angehörigen im Stich zu lassen, selbst Eltern wenden sich von ihren Kindern ab.
In dieser düsteren Lage, so die Rahmenerzählung des Decameron, beschließt eine Gruppe von zehn jungen Leuten, die Stadt zu verlassen und aufs Land zu fliehen. In der schönen und heiteren Umgebung ihrer Landgüter erzählen sie einander an zehn Tagen jeweils zehn Geschichten. Danach treffen sie die Entscheidung, nach Florenz zurückzukehren. Dieser Entschluss, der nicht weiter begründet wird, überrascht insofern, als die Erzählergemeinschaft ihre Flucht aufs Land eingangs ausführlich mit dem aus dem Naturrecht hergeleiteten Argument begründet hat, das eigene Leben bewahren zu müssen. Und nun kehrt sie nach Florenz zurück, obgleich dort die Pest weiterhin unverändert wütet. Wie kann das sein? Was hat die ‚Auszeit‘ außerhalb der Stadtmauern von Florenz verändert?
Den Unterschied zwischen dem ‚Vorher‘ und dem ‚Nachher‘ macht das Erzählen. Ein zentrales Anliegen der lateinischen wie der volkssprachigen Werke Boccaccios ist es, die Bedeutung der Literatur hervorzuheben, die in der spätmittelalterlichen Gesellschaft mit der Theologie, Philosophie und Jurisprudenz um Ansehen konkurriert. Im Erzählen von Novellen finden die zehn jungen Menschen – anders als Ärzte und andere Gelehrte – ein Gegenmittel gegen die Pest und dies nicht nur im Sinne von Ablenkung und geselligem Zeitvertreib. Vielmehr verhandeln die Erzählungen gesellschaftliche Probleme, die bereits vor Ausbruch der Pest existierten, durch sie aber verschärft hervorgetreten sind, darunter die Heuchelei der Geistlichen und die Frage nach den Grenzen des Expertenwissens, ja des menschlichen Wissens überhaupt. Das Erzählen von Novellen ermöglicht eine Redeweise, die nicht auf die Herstellung einfacher Kausalitäten abzielt, sondern der Pluralität von Deutungen und Meinungen Raum gibt. Auf heitere und anregende Weise stiftet es Erkenntnis außerhalb geschlossener Gelehrtengruppen. So befinden wir uns am Ende des Decameron zwar noch immer mitten in der Krise, die Erzählungen wappnen jedoch für einen besseren Umgang mit ihr.