Zukunft in Zeiten von Corona
Von Ethnologin Prof. Dr. Dorothea Schulz
“Ich weiß überhaupt nicht, warum Du Dich so sehr um die ungewisse Zukunft sorgst. Für uns ist das nichts Neues. Ich habe schon immer damit gelebt, dass für das Morgen alles drin ist, Gutes und Schlechtes.“ Mit dieser Bemerkung antwortete Anfang März ein langjähriger Informant und Freund, der nahe der Stadt Mbarara im Südwesten Ugandas lebt, auf meine besorgte Frage, wie er und seine Familie denn die schwierige wirtschaftliche Lage in der Corona-Krise bewältigten. Seine Antwort verweist (ebenso wie meine Sorge) auf eine spezifische Sicht von Zukünftigkeit, die (ebenso wenig wie die meine) nicht kulturalistisch, also unter ausschließlichem Verweis auf „kulturelle Vorstellungen“, sondern unter Berücksichtigung spezifischer sozio-ökonomischer und politisch- institutioneller Rahmenbedingungen gedeutet werden sollte.
Seit Ende Februar begannen die seismischen Auswirkungen der Corona-Pandemie auch diejenigen Länder Afrikas zu erreichen, deren Gesellschaft, Geschichte und Politik mir durch langjährige Forschungstätigkeit vertraut sind: Mali und Uganda. Während der folgenden Wochen verbrachte ich fast täglich Zeit mit dem Versuch, über das Telefon mit mir vertrauten und freundschaftlich verbundenen Kolleginnen und Informanten in Verbindung zu treten. Zutiefst besorgt erkundigte ich mich immer wieder nach ihrem Gesundheitszustand und dem ihrer Familie und auch danach, wie sie und ihr Umfeld denn die negativen wirtschaftlichen Folgen der Ausgangssperre abfedern könnten. Eine meiner eindrücklichsten Beobachtungen während dieser Telefongespräche war – und ist – die Mischung aus Besorgnis und kontrollierter Gelassenheit, versetzt mit der üblichen Prise von Humor, die in ihren Reaktionen auf meine besorgten Nachfragen mitschwingt. Bemerkenswert sind diese Reaktionen zum einen in Anbetracht der offenkundig unzulänglichen medizinischen Infrastruktur und der für Viele ohnehin zutiefst prekären wirtschaftlich Situation in beiden Ländern. Zum anderen stehen sie im klaren Kontrast zu Tendenzen in der europäischen Öffentlichkeit, die Krisenhaftigkeit der gegenwärtigen Situation durch Verweise auf die Unplanbarkeit der unmittelbaren Zukunft zu charakterisieren. Ebenso wie die eingangs genannte Aussage verweisen die Reaktionen auf eine Zukunftsorientierung, die auf der Unvorhersehbarkeit von Ereignissen und Handlungsoptionen, Ergebnisoffenheit und Unplanbarkeit gründet.
Arjun Appadurai unterscheidet in seinem Buch The Future as a Cultural Fact zwischen zwei Konzeptionen des Zukünftigen. Eine Sicht auf die Zukunft als „Horizont der Wahrscheinlichkeiten“ betont die Möglichkeit, aufgrund bisheriger Erfahrungen Aussagen für die Zukunft zu treffen und damit (relative) Planbarkeit herzustellen. Dagegen verweist der Begriff „Horizont der Möglichkeiten“ auf eine Zukunftsorientierung, die auf Ergebnisoffenheit und das Potential verschiedener Handlungsmöglichkeiten abhebt. Appadurais Unterscheidung ist hilfreich, um die unterschiedlichen Deutungen der aktuellen Situation, als „Krise“ und radikalen Bruch mit dem bisher Gewohnten oder aber als ein deja vu und als Konstellation zu deuten, die die gewohnte Sicht auf die Zukunft eher bestärkt als unterläuft.
Dies heißt nicht, dass meine Gesprächspartner in Uganda und Mali die gegenwärtige Situation nicht als zutiefst besorgniserregend und bedrohlich, unter anderem in Hinsicht auf die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Restriktionen wahrnehmen. Auch dort tragen eine brodelnde Gerüchteküche und wilde, nur durch ihre emotional performative Wirkung erklärbare Verschwörungstheorien dazu bei, eine allgemein geteilte Atmosphäre von existentieller Bedrohung und Ausnahmezustand zu schüren.
Gleichzeitig erinnert aber die von Kollegen und Freundinnen in Uganda und Mali formulierte Konzeption von Zukünftigkeit als eine Palette von Möglichkeiten daran, dass unser Gefühl der Krise angesichts der eingeschränkten Planbarkeit unseres Lebens sich aus einer kulturell und historisch spezifischen Sicht auf die Zukunft speist.