Klassiker redivivus: Albert Camus, Die Pest (1947)
Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)
Albert Camus‘ Klassiker Die Pest aus dem Jahr 1947 hat in den letzten Wochen und Monaten neue Aktualität erfahren. Medienberichten zufolge sind die Verkaufszahlen in Frankreich und Italien, aber auch in Deutschland signifikant gestiegen. Die Nachfrage bei einer Münsteraner Buchhandlung ergab, dass das Buch zwischendurch immer wieder für einige Tage nicht lieferbar war, weil es nachgedruckt werden musste. Die Lagerbestände beim Großhändler Libri zeigen Camus‘ Roman derzeit auf einer Stufe mit den aktuellen Bestsellern. Offensichtlich suchen die Menschen eine Spiegelung ihrer eigenen Situation in der Literatur. Dies scheint auch das dem Text vorangestellte Motto von Daniel Defoe anzuzeigen: „Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt“ (Albert Camus, Die Pest. Roman, übers. v. Guido G. Meister, Düsseldorf 1966, 5).
Der erste Satz des Romans lautet: „Die seltsamen Ereignisse, denen diese Chronik gewidmet ist, haben sich 194... in Oran abgespielt“ (5). Der Text ist also dezidiert als eine Chronik angelegt, obwohl die geschilderten Geschehnisse fiktiv sind. Die unvollständige Jahreszahl, in der man einen chiffrierten dokumentarischen Wirklichkeitsbezug sehen könnte, verweist zugleich auf die Unwirklichkeit des Geschilderten. Der Roman ist von Zeitangaben durchzogen, die einerseits der Erfassung des krisenhaften Geschehens dienen sollen, andererseits dessen Unfassbarkeit vor Augen führen. Hier nur einige Beispiele: „Als Rieux um 17 Uhr ausging“ (10), „Aber als am nächsten Morgen, dem 18. April“ (11), „Man kann sagen, daß von diesem Augenblick an die Pest uns alle betraf“ (41), „Die folgende Zeit [...] war eine Zeit der Erschlaffung“ (65), „Allerheiligen war dieses Jahr nicht wie andere Jahre“ (138) etc. Besonders tangiert die erzwungene Trennung das Zeitgefühl von Liebenden: „die Zeit, die sie während der Monate ihrer Verbannung hätten vorwärtstreiben wollen, damit sie sich beeile, die sie immer noch mit aller Kraft beschleunigen wollten, als sie unsere Stadt [bei der Rückkehr] schon sehen konnten – diese Zeit hätten sie im Gegenteil zurückhalten und aufheben wollen, sobald der Zug zu bremsen anfing. Das gleichzeitig verschwommene und stechende Bewußtsein all der Monate ihres Lebens, die ihrer Liebe verlorengegangen waren, ließ sie undeutlich nach einer Art Ausgleich verlangen, wonach die Zeit der Freude zweimal langsamer hätte verfließen müssen als die Zeit der Erwartung“ (172).
Die Erzählung beginnt im April und im Februar werden die Tore der Stadt wieder geöffnet. Und da heißt es: „Der Tag stand still. Von den Festungen auf den Hügeln krachten ohne Unterlaß Kanonenschüsse in den unveränderlichen Himmel. Die ganze Stadt stürzte hinaus, um jene bedrängende Minute zu feiern, da die Zeit des Leidens zu Ende ging und die Zeit des Vergessens noch nicht angebrochen war“ (175). Und wie um die Chronologie der Berichterstattung zu irritieren, weht am Ende des Romans plötzlich ein lauer Herbstwind. Für die Hauptfigur, den Arzt Rieux, der sich am Ende als Verfasser der Chronik zu erkennen gibt, hat sich der Fluss der Zeit ohnehin in ein Bewusstsein zeitlicher Latenz gewandelt, denn er weiß, „daß der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann [...] und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird“ (181).
Das eingangs zitierte Motto von Defoe benennt im Übrigen den allegorischen Charakter des Romans, der in der Seuche der Pest auch die nationalsozialistische Okkupation zu lesen gibt.