Die literarische Visualisierung des Unsichtbaren und Verborgenen in Boccaccios Pestdarstellung
Von Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Pia Claudia Doering (Romanistik)
Epidemien konfrontieren Menschen mit vielfältigen Phänomenen der Unsichtbarkeit: Das Virus selbst ist für das menschliche Auge nicht sichtbar, ebenso wenig können wir Verbreitungswege und -mechanismen unmittelbar erkennen. Daher muss die Bedrohung, die von einer Epidemie ausgeht, vermittelt werden: durch Zahlen und Statistiken, durch Graphiken und durch Bilder, wie die von überfüllten Krankenstationen oder von Militärfahrzeugen, die Massen von Särgen abtransportieren.
Bildende Kunst und Literatur verfügen ganz grundsätzlich über besondere Mittel, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Sie erfinden Bilder, Vergleiche, Metaphern und Allegorien für das Abstrakte und Unvorstellbare, etwa für die Zeit, die Liebe, den Tod und die Transzendenz. Wie eindringlich literarische Texte die unsichtbare Gefahr einer Epidemie vor Augen führen können, belegt die Pestdarstellung in Boccaccios Decameron. Eine bildreiche Sprache, anschauliche Vergleiche, Beispiele und Details führen dem Leser vor Augen, wie die Stadt Florenz der Pest zum Opfer fällt: Drastisch beschreibt Boccaccio, wie die Krankheit durch Zeichen am Körper – Pestbeulen und schwarze Flecken – in Erscheinung tritt, die als sicherer Hinweis auf den nahenden Tod gedeutet werden. Und auch wenn der Krankheitserreger mit den Augen nicht wahrnehmbar ist, so liegt er doch – im wahrsten Sinne des Wortes – in der Luft: Sie ist vom Gestank der Leichen, der Kranken und der Medikamente erfüllt, so dass die Menschen, wenn sie ihre Häuser verlassen, Blumen, Kräuter und Gewürze vor sich hertragen. Die rasend schnelle Ausbreitung der Seuche macht im Decameron der Vergleich mit dem Feuer deutlich, das trockene oder in Öl getränkte Dinge entflammt. Dass die Krankheit nicht nur von Mensch zu Mensch übertragen wird, sondern dass auch Gegenstände ansteckend sein können, illustriert das Beispiel zweier Schweine, die mit den Pfoten und der Schnauze in den Lumpen eines Verstorbenen wühlen, kurz darauf Vergiftungserscheinungen zeigen und tot umfallen.
Der literarische Text zeigt aber nicht nur, was das menschliche Auge von Natur aus nicht erkennen kann. Er fördert auch das zutage, was aus politischen Gründen verborgen bleiben soll. Zeitgenössische italienische Chroniken belegen, dass die Behörden sich darum bemühten, die hohen Todeszahlen geheim zu halten, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und auch um das Scheitern der behördlichen Maßnahmen zu verschleiern. So berichtet der Florentiner Chronist Giovanni Villani (1280-1348) in seiner Nuova Cronica, dass das Läuten der Totenglocken ebenso wie die öffentliche Ankündigung von Beerdigungen verboten wurden. Zudem durfte mit Ausnahme von Witwen niemand mehr Trauerkleidung tragen. In einer Gegenbewegung gegen das Verbergen von Krankheit, Tod und Schmerz imaginiert Boccaccio den Blick eines Spaziergängers, der am frühen Morgen durch die ärmeren Gegenden von Florenz streift und dort die unzähligen Leichen vor den Hauseingängen liegen sieht, bevor sie kurze Zeit später mit Tragen abgeholt und in Massengräbern, „wie die Waren auf Schiffen übereinandergestapelt werden“ („come si mettono le mercatantie nelle navi a suolo a suolo“, Introduzione 42). Der Vergleich verweist nicht nur auf die Entmenschlichung angesichts des Massensterbens, sondern spielt zugleich auf die ökonomischen Interessen der Stadt Florenz an, in deren Interesse es liegt, die Gefahren der Pestepidemie zu verbergen.