pandemic visibility – Pandemien und die Sichtbarwerdung des Unsichtbaren

Von Historiker Matthias Sandberg

Der Infektionsforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts gelang es, das Unsichtbare erstmals sichtbar zu machen: Die mikroskopische Untersuchung und mikrofotographische Darstellung von Bakterien und Viren verliehen der unsichtbaren Bedrohung eine konkrete Gestalt. Auch heute ist die mehr oder minder exakte Darstellung des SARS-CoV-2-Erregers in der Berichterstattung allgegenwärtig: Seine namensgebende runde Form mit den typischen Zacken ist weltweit zum Symbol der Corona-Pandemie geworden.

Josse Lieferinxe (1483-1508), St. Sebastian betet für die Pestopfer, Öl auf Leinwand 81,8x 55,4 cm, 1497-1499
© The Walters Art Museum (CC0 1.0)

Doch bevor die moderne Infektions- und Molekularbiologie das Unsichtbare sichtbar hat werden lassen, waren es die Symptome – vom griechische Term ‚σύμπτωμα‘, gebildet aus dem Präfix συν- (gemeinsam) und dem Verb πίπτειν (fallen), also das, was zusammen fällt –, die wahrnehmbaren Manifestationen der Infektion am Menschen und die Reaktionen seiner Umwelt, die in der literarischen und medialen Darstellung die Gegenwart einer Seuche anzeigten – die sie sichtbar machten. Das spiegeln auch die Strategien der literarischen Visibilisierung von Seuchen: So wollte der athenische Historiker Thukydides (vor 454 v. Chr. – wohl zw. 399 v. Chr. und 396 v. Chr.) seine minutiöse Schilderung von Symptomen der sogenannten Athenischen Pest als Antwort auf die ansonsten unsichtbare Bedrohung verstanden wissen: Zu Beginn seiner für die antike Historio¬graphie archetypischen Darstellung der Seuche der Jahre 430/426 v. Chr. heißt es:

So soll denn über diese Seuche jeder, Arzt wie Laie, seine Meinung äußern, woraus sie wahrscheinlich entstanden ist und welche Ursachen er für wirkungsmächtig genug hält, einen derart radikalen Umschwung auszulösen; ich will beschreiben, wie sie verlief, und die Symptome, von deren Untersuchung ausgehend man, falls sie noch einmal hereinbrechen sollte, am besten durch Vorwissen vor Ahnungslosigkeit gefeit sein kann, die will ich darstellen, der ich selbst die Krankheit durchgemacht und andere leiden gesehen habe. (Thuk. II, 48,3)


Abgesehen davon, dass die Worte des Thukydides bemerkenswert gut auch auf den aktuellen Umgang mit der Corona-Pandemie passen, wo tagespolitische Debatten gleichermaßen von Ärzten wie ‚Laien‘ befördert werden, reflektiert der Historiker neben den leiblichen Infektions¬erscheinungen auch die auf die unsichtbare Seuche hinweisenden Veränderungen und Reaktionen seiner Umgebung: Es sind besondere Zeichen und Reaktionen der natürlichen Umwelt – wie etwa der ausbleibende Leichenfraß durch Tiere – die in der Sichtbarmachung der Krankheit dienen:

Vögel und vierfüßige Tiere, die an Leichen gehen, hielten sich von den vielen unbegrabenen Toten entweder ganz fern oder verendeten nach wenigen Bissen. Es kam zu einem deutlich wahrnehmbaren Schwinden solcher Vögel, und man sah keine mehr, weder sonst irgendwo noch in der Nähe von Leichen; (Thuk. II, 50,1-2)

Daneben aber äußerten sich schwerwiegende pandemische Krankheits¬verläufe auch in Form beobachtbarer zivilisatorischer Brüche sowie in der kollabierenden Einhaltung gesell-schaftlicher Normen-, Werte- und Regelsysteme; das reflektieren auch unsere Quellen: So berichtet Thukydides weiter von der ἀνομία, der grundsätzlichen Zerrüttung des sozialen Miteinanders und seiner Regeln, die seine Polis während der Epidemie – und noch dazu inmitten des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) – geprägt habe: Tempel und Heiligtümer seien vernachlässigt worden, Religion und Gesetz hätten, da Bittgesuche und Flehen vergebens, ihre Ordnungsfunktion verloren, Furcht, Hoffnungs¬losigkeit und schließlich Selbstaufgabe die Menschen bestimmt. Besonders deutlich habe sich der anomische Zustand seiner Polis im pietätlosen Umgang mit den Toten und der Missachtung der Beisetzungssitten gezeigt, wonach sich

[...] das Sterben unter chaotischen Umständen [vollzog, M.S.]: Leichen lagen übereinander und Sterbende, und auf den Straßen und um alle Fließwasserquellen wälzten sich halbtote Menschen in ihrer Gier nach Wasser. Und die heiligen Bezirke, in denen sie kampierten, waren voll von Leichen, da auch dort drin gestorben wurde; denn angesichts der übermächtigen Gewalt der Katastrophe griff bei den Menschen, die nicht mehr aus noch ein wussten, Gleichgültigkeit um sich gegenüber göttlichem Gebot ebenso wie gegenüber menschlichem. Und alle Regeln im Zusammenhang mit Bestattungen, die man früher eingehalten hatte, wurden in dem allgemeinen Durcheinander hinweggefegt, und jeder bestattete, wie er konnte. Dabei gingen viele völlig pietätlos vor aus Mangel an allem Notwendigen, weil schon so viele ihnen vorher gestorben waren: Auf Scheiterhaufen anderer Leute legte man den eigenen Toten und entfachte Feuer, wenn man es schaffte, denen, die ihn aufgeschichtet hatten, zuvorzukommen, andere warfen, während eine andere Leiche schon brannte, den Toten, den sie trugen, einfach oben drauf und gingen weg. (Thuk. II, 52, 2-4)

Das Ausbleiben der Beisetzung von Toten entsprechend althergebrachter Sitten, das im Falle von besonders schwerwiegenden pandemischen Krankheitsverläufen insbesondere den dicht besiedelten städtischen Raum betraf, gehörte seit jeher auch zum typischen Vokabular der literarischen Sichtbarmachung von Seuchen: Ein ganz ähnliches Bild zeichnete etwa auch der spätantike Historiker Prokop (um 500 – um 560 n. Chr. ) vermittels seiner am thukydideischen Vorbild orientierten Darstellung der erstmals in den 540er Jahren auftretenden Justinianischen Pest. Als eine im gesamten Mittelmeerraum in Wellen auftretende Pandemie mit zahllosen Opfern war es die schwerste Seuche der Alten Welt. Im Zuge seiner Pestbeschreibung durchmisst Prokop das Wüten der Seuche im urbanen Kontext Konstantinopels nahezu aus-schließlich vermittels seiner Darstellung des Versagens ordnungs¬gemäßer Bestattungspraxis, dem er sogar ein eigenes Kapitel gewidmet hat:

Zunächst sorgte jeder für die Beisetzung der in seinem Hause Verstorbenen, wobei man freilich die Leichen auch in fremde Gräber warf und dies heimlich oder unter Gewaltan-wendung tat. Später geriet alles durcheinander; [...]. So kam es, daß in der allgemeinen Notlage mancher Vornehme viele Tage lang unbeerdigt blieb. [...] Wer nun in seinem Hause noch nicht gänzlich ver¬einsamt war, bestattete selbst seine Angehörigen. [...] Als sämtliche bisherigen Begräbnisstätten mit Leichen überfüllt waren, grub man der Reihe nach alle Plätze um die Stadt herum auf, legte dort, so gut man konnte, die Toten hinein und ließ es dabei bewenden. Indessen waren die mit solcher Aufgabe beschäftigten Männer bald der Zahl der Sterbenden nicht mehr gewachsen. Sie bestiegen daher die Türme der Stadtmauer in Sykai, deckten die Dächer ab, warfen die Leichen, wie sie gerade kamen, hinein und häuften sie regellos aufeinander. Nachdem sie so fast alle Türme mit den Toten angefüllt hatten, setzten sie wieder die Dächer darauf. Infolgedessen drang ein übler Geruch in die Stadt und belästigte die Einwohner umso mehr, wenn auch noch Wind aus dieser Richtung wehte. Damals geschahen die Bestattungen ohne all die herkömmlichen Feierlichkeiten. Die Toten erhielten weder das übliche Geleite noch den gewöhnlichen Trauergesang; es mußte genügen, wenn man eine Leiche auf den Schultern bis zum städtischen Ufergelände trug und dort hinwarf, wo dann die Toten auf Kähne verladen und haufenweise irgendwohin verfrachtet wurden. (Prok. Pers. II, 23.)

Als die Pest schließlich Constantinopel erreichte, konnten die zahllosen Toten nicht ordnungsgemäß beigesetzt werden, türmten sich wortwörtlich auf, etwa weil sie in den Mauertürmen der Metropole gestapelt werden mussten; öffentliches Bittflehen, so Prokop weiter, wich – sogar in der liturgisch aufgeladenen Umwelt Konstantinopels – der Abschottung; selbst der enorme administrative Apparat des oströmischen Reiches musste vor der Zahl der Opfer kapitulieren.

An die Auswirkungen der Justianischen Pest in der gesamten Mittelmeerwelt erinnert auch die obige Darstellung von Josse Lieferinxe († vor 1508). Die Auftragsarbeit, die der Maler als Altarbild für die heute zerstörte Notre-Dame-des-Accoules in Marseille zwischen 1497-1499 gefertigt hat, bezieht sich auf eine der im 7. Jahrhundert auftretenden Wellen der Justinianischen Pest bzw. deren Wüten im lombardischen Pavia.

Eine genauere Betrachtung des Gemäldes zeigt zwei narrative Ebenen, eine irdische und eine außerweltlich-himmlische: Geradezu wie am Fließband erstreckt sich aus der Bildmitte eine Reihe von Leichen aus dem ansonsten leeren Stadtzentrum hin zur extramuralen Kapelle; auf Wagen müssen die Toten transportiert werden – der Leichenzug scheint nicht abzureißen. Im Vordergrund stürzt, gerade in dem Moment, als die anwesenden Kleriker zur Totenmesse anheben, ein Grabhelfer hinweggerafft von der Seuche (das zeigt die Pestbeule – bubo – an dessen Hals) zu Boden; Wehklagen und Kummer zeichnen sich in den Gesichtern der beistehenden Laien wie Kirchenvertreter ab.

Ganz am unteren Rand des Gemäldes kulminiert der ‚irdische‘ Erzählstrang in der Darstellung des kaum zu erkennenden, nur halbverscharrten Leichnams; die Werkzeuge der Grabhelfer sind noch hastig auf dem Boden verstreut: Auch die bildliche Darstellung Lieferinxes gipfelt in der Erzählung der in Anbetracht der unzähligen Pestopfer nicht mehr zu leistenden Einhaltung der christlichen Bestattungsgebote. Im oberen Drittel des Gemäldes entspinnt sich dagegen ein anderes Geschehen: Während ein (Pest-)Dämon mit einem Engel ficht, interzediert der anhand der Pfeile unzweifelhaft zu erkennende Heilige Sebastian kniefällig vor Gott für die von der Seuche bedrohte Stadtgemeinde, deren Ordnung in der Flut der Toten unterzugehen droht.

Die literarische und künstlerische Sichtbarmachung von Seuchen orientiert sich naturgemäß an den besonders schwerwiegenden Konsequenzen der Krankheit; dazu zählte in der Vormoderne vor allem auch der ‚Zivilisationsbruch‘ von in Anbetracht des pandemischen Massensterbens in Auflösung begriffenen Bestattungsnormen. Doch damit ist die Alte Welt nicht grundsätzlich fern von der Gegenwart: Zwar haben wir eine Vorstellung davon, wie der SARS-CoV-2-Erreger auf molekularer Ebene aussieht und können darin – zumindest theoretisch – die Ursache der Pandemie erkennen; doch als etwa in Bergamo ein Konvoi von Lastwagen des italienischen Militärs gebraucht wurde, um die vielen Särge zu überführen, als ganze Kichenräume von Särgen gefüllt waren, als uns Bilder aus New York erreichten, wo Leichensäcke in Kühlcontainern vor Krankenhäusern haben gelagert haben müssen, da zeigte sich, wie eindringlich die Sichtbarkeit von Seuchen sich auch heute in Form eines notgedrungenen Umganges mit den Toten manifestiert. Mehr als das ‚Symbolbild‘ der gezackten Sphäre des Corona-Virus haben solche Bilder die Gegenwart der Pandemie sicht- und wahrnehmbar werden lassen.