Imagination und Affekt angesichts der (un-)sichtbaren Bedrohung
Von Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-Bettina Krems
Seit der Renaissance formulierten Ärzte, Philosophen, Literaten und Geistliche in ganz Europa vielerlei Theorien über Krankheiten, insbesondere die Pest. Die meisten dieser Theorien gingen davon aus, dass Krankheiten sehr eng mit imaginierten Bildern und starken Gefühlsregungen, den klassischen Affekten, verbunden seien. Ein wichtiger Impuls ging von dem deutschen Arzt Daniel Sennert (1572–1637) aus, der zahlreiche Fälle vor allem in Wittenberg dokumentierte, in denen die Ansteckung mit der Pest nicht durch körperlichen Kontakt mit einer infizierten Person verursacht wurde, sondern durch das Erschrecken vor mit der Krankheit verknüpften Handlungen, die aus sicherer Distanz wahrgenommen werden. Dieser Annahme zufolge konnte bereits der Schreck angesichts eines mit Leichen beladenen Karrens, der auf dem Weg zur Grabstätte an einem vorbeifuhr, die Krankheit auslösen. Auch schreckliche Träume sollen Krankheitsauslöser gewesen sein. Diese Fälle nahm Sennert als Beweise dafür, dass „die Leidenschaft der Seele“ Krankheiten wie die Pest in Ausbruch und Verbreitung tatsächlich beschleunige und den Körper verändere. Ähnlich argumentierte der anglikanische Geistliche Robert Burton (1577–1640), der als Gelehrter und Bibliothekar am Christ Church College in Oxford tätig war: Die aufgewühlte Phantasie könne von tödlicher Wirkung sein. In seiner Anatomy of Melancholy (1621) erwähnt Burton den Fall eines Mannes, der buchstäblich vor Angst gestorben ist, als er – wenn auch irrtümlich – zu der Überzeugung gelangte, dass er sich in der Gegenwart eines Pestkranken aufgehalten habe: „the mind most effectively works upon the body, producing by its passions and perturbations miraculous effects, cruel diseases, and sometimes death itself.“ Während des Pestausbruchs in Rom 1656 mahnte der Arzt Gregorio Rossi: „Procul omnis tristitia, venus, signities. Mens sit hilaris, contemplationibis non laxetur“ / „Vermeiden Sie Trauer und Lust: Der Geist sollte glücklich sein, und er sollte nicht in Kontemplation verfallen“ (De Peste, 1656). Auch der päpstliche Arzt Matteo Naldi war überzeugt davon, dass heftige emotionale Zustände die Pestanfälligkeit des Körpers beförderten, „entweder aufgrund ihrer Zuneigung zu den zuerst Verstorbenen, oder aufgrund der Angst, von letzteren angesteckt worden zu sein, oder aufgrund eines anderen Traumas“ (Regole per la cura del contagio, 1656).
Angesichts solcher Diskussionen um die tödliche Wirkung der schieren Einbildungskraft und der Affekte im epidemischen Geschehen, dem weder die Wissenschaft noch die Geistlichkeit beizukommen wussten, eröffnen sich für die künstlerischen Pest-Darstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts sehr eigentümliche Bedeutungsdimensionen. Das hier gezeigte Gemälde aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien kann exemplarisch für die Rolle von Heiligen – meist ist es der Hl. Karl Borromäus – stehen, die im Rahmen von verheerenden Pestepidemien heldenhaft der Gefahr zu trotzen vermochten. Auf dem Gemälde ist zunächst ein Geistlicher zu sehen, der die Kommunion ausgibt. Jüngst wurde in dieser Figur der französische Jesuit und Prediger Jean-François Régis (1597–1640) erkannt, der 1737 heiliggesprochen worden war. Vermutlich ist das Bild kurz nach seiner Seligsprechung 1717 unter Papst Clemens XI. entstanden; es könnte ein Geschenk des Jesuitenordens an den Albani-Papst zum Dank für den positiven Ausgang des Beatifikationsverfahrens gewesen sein. Während sich oben links das Unheil in Form von dunklem Gewölk, die „schlechte Luft“, im Beisein eines Pestengels über der Stadt ausbreitet, spielt sich das Hauptgeschehen außerhalb der Stadtgrenzen ab. Mittig im Vordergrund erscheint der Jesuiten-Geistliche konzentriert, in sich ruhend, im unerschütterlichen Gottvertrauen: Er ist ein demonstratives Modell der Affektbeherrschung, allein dadurch spendet der Heilige Trost, selbst in aussichtsloser Lage. Links im Bild wird in unwürdig-dramatischer Manier ein männlicher Leichnam weggezerrt. Vermutlich gehört dieser Mann zur Familie der sterbenden Frau, die rechts mit letzter Kraft die Kommunion empfängt und ein bereits lebloses Kind auf ihrem Schoß hält. Auseinandergerissen wurde die Familie durch das schreckliche Schicksal der Pest. Selbst der kniende junge Ministrant mit der Kerze hält sich schützend die Nase zu, womit dem mit der Pestkrankheit einhergehenden beißenden Gestank eine visuelle Form verliehen wurde.
Der durch die Pest bedrohten gesellschaftlichen Ordnung, die sich – viel beschrieben schon in antiken Quellen – in der Vernachlässigung hygienischer Regeln und karitativer Pflichten zeigt, wird im Wiener Bild ein Gegenmodell angeboten, das sich nicht auf das Handeln des Heiligen beschränkt: Die sterbende Frau wird von einem älteren bärtigen Mann gestützt, der ebenso wie der Heilige und der Ministrant neben ihm sowohl den Gestank als auch seine eigene Angst ignoriert. Im Mittelgrund schließlich wird in einem erhöhten, nur von einem Strohdach geschützten offenen Raum die Pflege der Kranken und das Versorgen von Hilfsbedürftigen gezeigt, um neben der Standfestigkeit im Glauben auch die karitativen Leistungen als moralische Pflichten in Zeiten der Katastrophe zu demonstrieren. Der Orden der Jesuiten setzt sich hier, Anfang des 18. Jahrhunderts, gegenüber dem Papst selbst ein Denkmal. Im Rahmen der medizinischen Affekttheorien der Zeitgenossen erweist sich dieses Denkmal sogar als epidemisch evident.