Die Maske der Seuche. Nochmals zum Tod in Venedig
Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)
Warum ruft gerade die Pflicht zum Maskentragen bei vielen Menschen Widerstände hervor? Weil es einfach unangenehm ist? Weil die Brille beschlägt? Oder weil uns die Maske an etwas erinnert, was wir lieber verdrängen? Den Tod zum Beispiel? Zunächst einmal verbergen die zu tragenden Alltagsmasken einen Teil des Gesichts und schränken die Möglichkeit ein, in der Miene des Gegenübers zu lesen. Masken scheinen zu entindividualisieren wie Theatermasken oder Masken im Karneval, bei denen man nicht weiß, wer sich hinter der Maske verbirgt.
Es ist lohnend, einen zweiten Blick auf Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig von 1912 zu werfen. In der im Dossier ,RAUM‘ ODER ABSTAND UND AUSBREITUNG bereits zitierten Textstelle (https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/schwerpunkte/epidemien/01_thema_raum.html) ist die die Rede davon, dass das „Gespenst“ der Seuche „seine Maske“ (119) zeigt. Aber auch der Protagonist Gustav von Aschenbach wird zunehmend zum Maskierten. Auf seinem zu Beginn der Novelle geschilderten Spaziergang zum Englischen Garten in München, der bemerkenswerterweise während eines ,falschen Hochsommers‘ im Mai (vgl. 9f.) stattfindet, trifft von Aschenbach an der Tramhaltestelle auf eine merkwürdige Erscheinung: Ein hagerer, rothaariger Mann mit „milchige[r] und sommersprossige[r] Haut“ und dem „Gepräge des Fremdländischen und Weitherkommenden“ (11), „farblosen, rotbewimperten Augen“ und einer „kurz aufgeworfenen Nase“ (12) fasst den Schriftsteller in den Blick. Das Gesicht scheint von einer physiognomischen Entstellung“ geprägt: „seine Lippen schienen zu kurz, sie waren völlig von den Zähnen zurückgezogen, dergestalt, daß diese, bis zum Zahnfleisch bloßgelegt, weiß und lang dazwischen hervorbleckten“ (12). Unfähig, dem aggressiven Blick des Fremdlings standzuhalten, flieht der Schriftsteller.
Als er in Pola das Schiff nach Venedig nimmt, trifft er an Bord wieder eine verdächtige Gestalt, einen ,falschen Jüngling‘:
Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen Strohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes Schnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und vollzähliges Gebiß, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und seine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigefingern, waren die eines Greises. Schauerlich angemutet sah Aschenbach ihm und seiner Gemeinschaft mit den Freunden zu. (34f.)
In Venedig schließlich hat eines Abends nach dem Diner eine Gruppe von Straßensängern aus der Stadt ihren Auftritt im Vorgarten des Gasthofs, in dem Gustav von Aschenbach logiert. Einer der Truppe, „Inhaber der Guitarre, und im Charakter eine Art Bariton-Buffo“, ist „mimisch begabt (109) und wird folgendermaßen beschrieben:
Schmächtig gebaut und auch von Antlitz mager und ausgemergelt, stand er, abgetrennt von den Seinen, den schäbigen Filz im Nacken, so daß ein Wulst seines roten Haars unter der Krempe hervorquoll […]. Dem weichen Kragen des Sporthemds, das er zu übrigens städtischer Kleidung trug, entwuchs sein hagerer Hals mit auffallend groß und nackt wirkendem Adamsapfel. Sein bleiches, stumpfnäsiges Gesicht, aus dessen bartlosen Zügen schwer auf sein Alter zu schließen war, schien durchpflügt von Grimassen und Laster, und sonderbar wollten zum Grinsen seines beweglichen Mundes die beiden Furchen passen, die trotzig herrisch, fast wild zwischen seinen rötlichen Brauen standen. […] ein Lächeln tückischer Unterwürfigkeit entblößte seine starken Zähne […]. [Bei der Pforte] warf er auf einmal die Maske des komischen Pechvogels ab, richtete sich, ja schnellte elastisch auf, bleckte den Gästen auf der Terrasse frech die Zunge heraus und schlüpfte ins Dunkel. (111-117)
Als sich von Aschenbach – die Seuche bestimmt bereits das Leben in der Stadt – beim Blick in den Spiegel an seinem grauen Haar stört und daraufhin den „Coiffeur des Hauses“ (129) aufsucht, versichert ihn dieser, von Aschenbach habe „ein Recht auf seine natürliche Haarfarbe“ (129) und erbietet sich, ihm diese zurückzugeben.
„Wie das?“ fragte Aschenbach.
Da wusch der Beredte das Haar des Gastes mit zweierlei Wasser, einem klaren und einem dunklen, und es war schwarz wie in jungen Jahren. Er bog es hierauf mit der Brennschere in weiche Lagen, trat rückwärts und musterte das behandelte Haupt.
„Es wäre nun nur noch“, sagte er, „die Gesichtshaut ein wenig aufzufrischen.“
Und wie jemand, der nicht enden, sich nicht genugtun kann, ging er mit immer neu belebter Geschäftigkeit von einer Hantierung zur anderen über. Aschenbach […] sah im Glase seine Brauen sich entschiedener und ebenmäßiger wölben, den Schnitt seiner Augen sich verlängern, ihren Glanz durch eine leichte Untermalung des Lides sich heben, sah weiter unten, wo die Haut bräunlich-ledern gewesen, weich aufgetragen, ein zartes Karmin erwachen, seine Lippen, blutarm soeben noch, himbeerfarben schwellen, die Furchen der Wangen, des Mundes, die Runzeln der Augen unter Crème und Jugendhauch verschwinden. (129f.)
Das Ende der Geschichte ist bekannt: Im Liegestuhl am Strand verfolgt Aschenbach mit den Augen nochmals den begehrten Knaben Tadzio. In Viscontis Verfilmung sieht man, wie dem Schriftsteller dabei die Schminke vom Gesicht läuft, bis ihm „das Haupt […] auf die Brust“ (139) sinkt. Das Unheimliche in Manns Novelle ist, dass die Fratze des Todes immer näher rückt, bis sie sich auch die Physiognomie des Protagonisten aneignet und Maske und Gesicht ununterscheidbar werden. Dagegen kann der moderne Mund/Nasenschutz abgenommen werden, wenn man ihn nicht (mehr) braucht – aber nur, wenn man ihn auch trägt…