Die Seuche im Gesicht tragen - Masken als Indikator eines unsichtbaren Geschehens
Von Historikerin Katharina Wolff
Wer an Masken denkt und an Seuchen, der denkt recht bald auch an die allseits bekannte Gesichtsmaske des Pestarztes Doktor Schnabel. Auf frühneuzeitlichen Darstellungen ist sie zu sehen, die Gestalt im langen schwarzen Mantel, vielleicht mit einem Stab, behandschuhten Händen und einem Gelehrtenhut, der den Doktor erkennen lässt. Im Gesicht trägt er die Maske, die ihn vor den ansteckenden Dünsten der Kranken bewahren soll. Der griechische Begriff "Miasma" bedeutet soviel wie "übler Dunst" oder "schlechte Luft". Die Vorstellung von solchen umherziehenden Luftmassen, die Menschen krank zu machen vermochten, geht auf die antiken Hippokratischen Schriften zurück. Die Miasmentheorie, auf der also die Schutzbekleidung des Doktor Schnabel basiert, war im Europa der großen Seuchenzüge seit ca. 1348 eine der ältesten und am weitesten verbreiteten Theorien über die Natur der Pest. Mittelalterliche Pesttraktate empfahlen ihren Lesern, sich mit wohlriechenden Stoffen zu umgeben, um dem verderblichen Anhauch zu entgehen. Richtiges Lüften, das Besprengen der Häuser mit Essig und Rosenwasser, Verbrennen von wohlriechenden Hölzern, aber auch das Verstreuen und Mitnehmen duftender Pflanzenteile, Ambra oder ähnlicher Dinge legte man den Menschen im Pestalltag ans Herz. Eine Maske trug man jedoch nicht, obwohl man sich auch unterwegs in Gefahr wähnte. Nicht zuletzt wurde auch empfohlen, Menschenmengen zu meiden. Man nahm den individuellen Seuchenschutz dennoch mit: Wer davon Kenntnis erhielt und es sich leisten konnte, führte die empfohlenen Riechstoffe als kleines Gebinde mit sich. Den sogenannten Bisamapfel hielt man unterwegs vor Mund und Nase, um anstelle verdorbener Luft den Wohlgeruch einzuatmen. Schon das weithin bekannte und genreprägende Pariser Pestgutachten von 1348, das auf Geheiß des französischen Königs die Mediziner der Pariser Universität zur Politikberatung heranzog, empfahl ein solches Gebinde.
Wie luxuriös die Ausgestaltung dieses individuellen Seuchenschutzes sein konnte, zeigt das Porträt des Konstanzer Patriziers Heinrich Blarer aus dem Jahr 1460. Aus wohl silbernem Schmiedewerk und mit einer verzierten Armkette versehen, hält er stolz vor sich, was ihn in diesen Zeiten schützte. Eine Gewohnheit, die Riechstoffe direkt im Gesicht zu tragen, hat sich jedoch nicht entwickelt. Dennoch heißt es über die Schnabelmaske des frühneuzeitlichen Pestarztes, sie sei mit solchen Riechstoffen gefüllt gewesen. Dass es den Doktor Schnabel jedoch gar nicht oder kaum irgendwo gegeben hat, legte jüngst ein Aufsatz der Ärztin und Medizinhistorikerin Marion Ruisinger aus dem Jahr 2019 dar. Doch die furchterregende und befremdliche Gestalt ist sehr präsent geblieben, durch die Jahrhunderte, und sie steht bis heute für den Schrecken der Pest, oder sogar für die Pest selbst. Und nicht erst aus Sicht der Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hat sich die Gestalt des Doktor Schnabel zum Sinnbild der Seuche gewandelt: Auf einer der bekanntesten Versionen seiner Darstellung kann man im Hintergrund einige Personen erkennen, die beim Anblick des Arztes die Flucht ergreifen. Der Doktor steht in seinem grausigen Aufzug für die Seuche selbst. Kaum noch als menschliches Wesen zu erkennen, mag solch eine Gestalt, so sie sich dem Patienten näherte, weniger ein Gefühl der Erleichterung und der Gewissheit nahender Hilfe, als vielmehr eines von Furcht und Verlorenheit vermittelt haben. So geriet die Figur und vor allem die unheimliche Maske des angeblichen Pestarztes zum Sinnbild der Seuche selbst, einem Phänomen, vor dem man floh.
Doch heute ist alles anders. Oder? Die Masken der Neuzeit sind schließlich Zeichen von Wissenschaftlichkeit und Technokratie, sie basieren auf empirisch nachgewiesenen Tatsachen. Zum einen können dort, wo die Medizin der westlichen Welt nicht oder noch nicht weit verbreitet ist, Szenen der Ablehnung auch heute beobachtet werden. So ereigneten sich in der großen Ebola-Epidemie von 2014 bis 2016 Ausschreitungen gegen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die in ihrer Vollschutzkleidung in entlegene Siedlungen Westafrikas kamen und, aus der Sicht der Einheimischen, die Seuche überhaupt erst mitbrachten. Als wandelnde Indikatoren eines unsichtbaren Geschehens, einer diffusen Bedrohung, ließen diese maskierten Gestalten die Seuche überhaupt erst sichtbar und real werden. Den Schrecken befeuerte zudem die Beobachtung dass, wer von den Vermummten in ein Behandlungszentrum gebracht wurde, dieses oft nicht mehr lebend verließ. Doch auch hierzulande und in jenen Bevölkerungen, deren Angehörige seit ihrer Geburt an die moderne, westliche Medizin und ihre Argumentationsweisen gewöhnt sind, die schon einmal gehört haben von Erregern und Ansteckung, von Desinfektion und Impfstoffen, regt sich Widerstand gegen das Tragen der Alltagsmasken. Die Gründe für eine solche Verweigerungshaltung sind sicher vielfältig. Komplexitätsbewältigung mag einer sein: Um die Situation und den Sinn oder Unsinn einer verordneten Maßnahme einschätzen zu können, bedarf es eines bestimmten Wissensstandes, den man sich unter Umständen mit viel Geduld anlesen muss. Die Existenz der Pandemie überhaupt zu leugnen und folglich keine Maske tragen zu wollen, ist eine Abkürzung aus dieser Lage.
Die Maske ist für viele Menschen Manifestation und Eingeständnis, dass eine Epidemie oder Pandemie besteht. Man trägt das Zeichen für ihre Existenz im Gesicht, und der Akt des Aufsetzens ist ein Bekenntnis und eine Teilnahmeerklärung zu dieser furchterregenden (Un-)Gewissheit. Die Flagge der Seuche wird in den Gesichtern gehisst, und von diesem Moment an gibt es keine Möglichkeit mehr, sich den daraus folgenden, immer wieder abgeänderten, unbequemen und den Alltag erschwerenden Anweisungen der medizinisch-politischen Expertise zu entziehen. Die Maske als Teil der Schutzkleidung holt eine Seuche ins sichtbare Spektrum, lässt sie erschreckend real werden, und hinter den verhüllenden Schichten verschwindet das Gesicht, verschwindet das Individuum zugunsten eines kollektiven, größeren Ziels: die Seuche zu bekämpfen.