Verschwörungstheorien als Erzählungen

Von Literaturwissenschaftler PD Dr. Christian Sieg

Erste Ausgabe der Schweizer Frauenzeitschrift «Annabelle»
© Smlg. Archäologie und Museum Baselland

Verschwörungstheoretiker*innen wissen mehr. Bekannt ist ihnen eine geheime Agenda, die Ereignisse oder Zustände erst erklärt. Momentan sind es die Reaktionen der Weltgemeinschaft auf die Corona-Pandemie, von denen sie wissen, dass sie auf Falschinformationen beruhen, die Teil einer politischen bzw. ökonomischen Agenda konspirativ verfahrender Akteure sind. Wir sprechen von Verschwörungstheorien, weil solche Aussagen ihrem eigenen Anspruch nach versuchen, etwas zu erklären. Möglicherweise wäre es aber angebrachter von Verschwörungserzählungen zu sprechen, denn das angebotene Wissen ist narrativer Natur. Ein Zustand oder Ereignis wird kausal auf das Wirken eines Personenkreises zurückgeführt. Die Anschläge vom 11. September habe der israelische Geheimdienst Mossad und die Französische Revolution der Illuminatenorden durchgeführt – so raunt es in den verschwörungstheoretischen Kanälen. Betrachtet man Verschwörungstheorien als Erzählungen, so zeigt sich überraschenderweise eine Figur im neuen Licht: der/die Verschwörungstheoretiker/in. Welche Vorteile hat es ihn oder sie als Erzähler bzw. Erzählerin zu begreifen?

Auf den ersten Blick scheint die narrative Dimension von Verschwörungstheorien einfach fassbar. Weil Verschwörungstheoretiker*innen davon berichten, wie Akteure ein bestimmtes Ereignis oder einen Zustand verursachen, handelt es sich bei ihrem Bericht um eine Erzählung. Die Funktion von Erzählungen, kausale Verknüpfungen zu erschaffen, wird in der Erzähltheorie vielfach hervorgehoben. Erzählungen besitzen nicht nur eine chronologische Ordnung, in der sich Ereignisse schlicht aufgelistet finden. Sie verknüpfen diese Ereignisse auch kausal. In der Terminologie von E. M. Forster bezeichnet die Literaturwissenschaft diesen Aspekt von Erzählungen als Plot. „The king died and then the queen died of grief“ – so Forsters Beispiel für einen Plot. Nicht alle Königinnen sind nun bekanntlich fiktiv. Gleiches gilt für Erzählungen. Wir nutzen Narrative auch, um uns über Faktuales zu verständigen, uns in der Welt, im eignen Leben oder auch der Geschichte zu orientieren. Ob ein Element eines Plots Fiktion oder Fakt ist, lässt sich nur am Einzelfall überprüfen. Verschwörungsnarrative zeichnen sich nun dadurch weiter aus, dass sie zu den Erzählungen gehören, die ein dichotomes Weltbild entwerfen. In der storyworld der Verschwörungstheoretiker*innen unterscheiden sich die Verschwörer*innen von allen anderen Gruppen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Macht und moralischen Skrupellosigkeit. Die dichotomische Ordnung der storyworld, in der die Gruppe der Verschwörer*innen dem moralisch integren Volk gegenübersteht, erklärt auch, warum Verschwörungsnarrative für populistische Parteien so anschlussfähig sind. Plausibilität gewinnen solche Zuschreibungen in Zeiten, in denen moralistische Sichtweisen dominieren und mächtigen Personenkreisen alles zugetraut wird. Die Bösewichte solcher Erzählungen sind bekannt: CIA, Mossad, „die Russen“ oder auch Donald Trump. Die Plausibilität von Verschwörungsnarrativen basiert auf zahlreichen anderen fiktiven und faktualen Erzählungen, die Akteure auf eine Weise darstellen, an die Verschwörungstheoretiker*innen anzuschließen vermögen. Das narratologische Konzept einer transmedialen storyworld konzeptualisiert diesen Zusammenhang. Entwickelt wurde es für die Analyse von transmedialen Erzähluniversen, die sich nicht mehr allein aus einem einzigen Text- oder Filmnarrativ speisen. So existieren George Lucasʼ fiktive Figuren der Star-Wars-Saga nicht nur in seinen Filmen, sondern in zahlreichen anderen Adaptionen in Film, Comic, Computer- und anderen Spielen sowie etlichen weiteren Medien. Rezipientinnen und Rezipienten imaginieren über alle Mediengrenzen hinweg eine transmediale storyworld. Bezeichnet wird mit storyworld also ein mentales Modell, das evoziert wird, sobald ein Gegenstand als Narrativ interpretiert wird. Für Verschwörungserzählungen sind storyworlds nicht minder wichtig. Ob Akteure als Protagonisten in Verschwörungsnarrativen plausibel wirken, ist auch dadurch bedingt, wie sie in zahlreichen anderen Erzählungen dargestellt werden und welchen Platz sie dadurch in transmedialen storyworlds einnehmen. Die Wahl fällt eher auf Donald Trump als auf Angela Merkel. Mit dem narratologischen Konzept der transmedialen storyworld lässt sich die Dynamik von Verschwörungsnarrativen besser verstehen. Das Konzept benennt das imaginative Erzähluniversum, in dem neue Narrative entstehen und über ihre Plausibilität entschieden wird.

Als ‚Erzählung‘ ist bisher eine Form der Darstellung bezeichnet worden, die Ereignisse kausal miteinander verknüpft und im Falle einer Verschwörungserzählung eine Zuschreibung besonderer Handlungsmacht und Skrupellosigkeit vornimmt. Aber das ist nicht der einzige Sinn von ‚Erzählung‘. Gérard Genette unterscheidet drei Dimension des Begriffs. Mit ‚Erzählung‘ meinen wir erstens eine narrative Aussage in schriftlicher oder mündlicher Form, die einen bestimmten Gegenstand vermittelt, beispielsweise von den Taten eines Helden berichtet. Zweitens bezeichnet der Begriff die dargestellte Ereignisabfolge, also den vermittelten Gegenstand in seiner ganzen Komplexität. Davon zu unterscheiden ist der dritte Sinn von ‚Erzählung‘: der Akt der Narration. Verschwörungstheoretiker*innen erzählen anderen Personen von einer Verschwörung. Die Feststellung mag banal erscheinen und doch erklärt sie, so soll hier zumindest angedeutet werden, die identitätsstiftende Rolle, die Verschwörungserzählungen als Handlungen übernehmen können.

Sobald der Akt der Narration in den Mittelpunkt der Analyse von Verschwörungserzählungen gerückt wird, zeigt sich die soziale Dimension des Erzählens. Erzählungen sind Kommunikationsakte und als solche sind sie nie voraussetzungslos, sondern beziehen sie sich immer auf vorangegangene Kommunikation. Um die Art und Weise der Kommunikation über Verschwörungen besser verstehen zu können, muss zunächst die konspirative Kommunikation selbst verstanden werden. Die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zum 18. Jahrhundert bietet hier zahlreiche Erkenntnisse. Denn paradoxerweise gehört das Jahrhundert der Aufklärung zu den Hochzeiten des Geheimbundwesens. Als charakteristisch für die Logen der Aufklärung und Gegenaufklärung konnte ihre esoterische Kommunikationsweise nachgewiesen werden. Konspirative Netzwerke kommunizieren ihr Wissen nur unter Eingeweihten. Die Initiation in den Geheimbund spielt daher auch in der Fiktion eine zentrale Rolle. Die populären Geheimbundromane der Zeit sind zugleich Bildungsromane, in denen junge Männer ihre Initiation in den Kreis der Wissenden erleben. Linda Simonis hat in aller wünschenswerten Deutlichkeit dargestellt, dass der esoterischen Redeweise eine performative Dimension eigen ist. Nicht der Aussageinhalt ist vorrangig von Interesse, sondern die dieser Redepraxis eigene soziale Wirkung: die Grenzziehung zwischen den Wissenden und Nichtwissenden. Esoterische Kommunikation konstituiert Gruppen. Als klassische Fundstelle dieses Esoterikkonzepts macht Simonis Mk 4, 11-12 aus: „Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben; denen draußen aber widerfährt es alles in Gleichnissen, auf dass sie mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen […].“ Der Geheimbundroman des 18. Jahrhunderts will dieses Geheimnis lüften – Licht ins Dunkel bringen. Ist diese aufklärerische Emphase allen Geheimbundromanen sowie seinen Adaptionen im Medium des Films auch gemeinsam, so zeigen sich insbesondere Klassiker des Genres wie Friedrich Schillers Der Geisterseher (1787/89) oder Carl August Grosses Der Genius (1791/95) doch auch fasziniert vom Geheimbundwesen. Die narrativen Instanzen beider Romane wollen die Verschwörung aufdecken, vermitteln aber zugleich Ehrfurcht vor dieser. In Grosses Roman zeigt sich der Erzähler immer wieder unwiderstehlich angezogen vom Mysterium und selbst Schillers Roman, der lange als aufklärerisches Exempel des Genres galt, zeichnet sich durch eine rhetorische und ästhetische Komplizenschaft mit seinem Gegenstand aus.

Betrifft das nur die Fiktion? Wird das Geheimnis nur in fiktiven Genres ambig dargestellt? Keineswegs! Die Komplizenschaft zwischen Verschwörung und Verschwörungstheoretiker*innen zeigt sich auch in der performativen Dimension von Erzählungen mit faktualem Anspruch. Sicherlich, die oben referierten Aussagen über die esoterische Kommunikationsweise beziehen sich auf den Kreis der Eingeweihten, also auf die Verschwörer*innen und nicht die Verschwörungstheoretiker*innen. Aber sollten diese Thesen nicht auch auf letztere bezogen werden? Eine solche Debatte erscheint mir fruchtbar. Dafür spricht, wie es die Geheimbundromane aus dem 18. Jahrhundert ebenfalls demonstrieren, dass die Aufklärer*innen der Verschwörung nicht nur selbst eine eingeschworene Gemeinschaft bilden, sondern eben auch mit Emphase beklagen, dass alle anderen mit sehenden Augen nicht sehen. Die Verschwörungstheoretiker*innen nehmen für sich in Anspruch, dass sie allein die Zeichen der Verschwörung erkennen und das Offensichtliche nicht verkennen. Ihre Marginalisierung ist Teil der eigenen Erzählung, die immer auch davon berichtet, dass die Macht der Verschwörung so groß ist, dass Aufklärung mit allen Mitteln verhindert wird. Damit wird das Wissen um die Verschwörung zwar nicht als geheimes Wissen charakterisiert, ist es doch grundsätzlich allen zugänglich, sehr wohl aber als Gegenstand einer esoterischen Kommunikation wider Willen. Der aufzudeckende Gegenstand ist dieser Erzählung zufolge nicht geheim, aber verborgen. Simonis bezieht sich hier auf Hegel: „Das Esoterische ist das Spekulative, das geschrieben und gedruckt ist und doch ein Verborgenes bleibt für die, die nicht das Interesse haben, sich anzustrengen. Ein Geheimnis ist es nicht und doch verborgen.“ Esoterische Kommunikation benötigt kein Kommunikationsverbot, sondern inszeniert immer auch, warum der Kreis der Verständigen klein bleibt, obwohl das Geheimnis öffentlich ist. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Kommunikation, an der sich aufgrund unterschiedlicher Bildungsbiografien faktisch auch nicht alle beteiligen können, benennen Verschwörungsnarrative aber einen Grund, warum ihr Wissen notwendigerweise nur einem kleinen Kreis zugänglich ist: Es sind die Verschwörer*innen, die dafür sorgen! Damit immunisiert sich die Narration der Verschwörung gegen Einwände. Wer an ihrer Plausibilität zweifelt, lässt sich blenden. Der Hinweis auf die fehlende Plausibilität ihrer Erzählung überzeugt Verschwörungstheoretiker*innen daher nur selten. Die Verschwörungserzählung kann stets erweitert werden, ja sie zwingt, wird sie in Zweifel gezogen, geradezu zum Weitererzählen. Diese serielle Erzählpraxis generiert für Erzählerinnen und Erzählern stets erneut die Erfahrung, dass sie den Verblendungszusammenhang im Gegensatz zu allen anderen durchschauen. Mit jeder neuen Erzählung nach bekanntem Erzählmuster stellen sich Verschwörungstheoretiker*innen als Wissende dar und wollen als wirkliche Repräsentanten all derer verstanden werden, die sich blenden lassen. Allein sie sprechen für das Volk, das stets betrogen wird.

Die Faszination von Verschwörungserzählungen erklärt sich wohl nicht zum geringen Maße aus dieser identitätsstiftenden Funktion der narrativen Instanz – und anders als in der Fiktion ist die narrative Instanz einer Erzählung mit faktualem Anspruch eine reale Person. Theoretisch scheint es mir daher geboten, Kommunikation nicht als einen unidirektionalen Vorgang zu begreifen. Konzipiert das kommunikationstheoretische Sender-Empfänger-Modell den Sender als invariant, so erlaubt es die Erzähltheorie, Kommunikation als Handlung zu begreifen, die immer auch den Akteur betrifft. Die Position der Erzählerin bzw. des Erzählers ist ein Schlüssel, um die Funktion von Verschwörungsnarrativen in unserer Gesellschaft zu verstehen. In der aktuellen Debatte wird häufig beobachtet, dass Verschwörungstheorien in esoterischen Kreisen sehr wohlwollend rezipiert werden. Begreift man diese Theorien als Narrative, dann erklärt sich dieser Umstand: Narrative der Verschwörung inszenieren ihre Erzählerinnen und Erzähler in esoterischer Manier.

Literatur:

  • Andriopoulos, Stefan (2010): Dunkle Mächte. Geister und Geheimbünde bei Schiller und Grosse. In: Mario Grizelj (Hg.): Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge, Funktionen, Formen. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 177–194.
  • Genette, Gérard (1998): Die Erzählung. 2. Aufl. München: Fink.
  • Hegel, G. W. F. (1971): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Werke, 19). S. 76/77.
  • Herman, David (2005): Storyworld. In: David Herman, Manfred Jahn u. Marie-Laure Ryan (Hg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London: Routledge, S. 569-570.
  • Simonis, Linda (2002): Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert. Heidelberg: Winter.