Verschwörungstheorien als Elitenkritik: Über die langen Traditionen eines aktuellen Phänomens

Von den Historikern Dr. Marcel Bubert, Prof. Dr. Wolfram Drews und PD Dr. André Krischer

Die ‚Pope Burning Procession’ in London von 1679.
© wikimedia commons

Bei den ‚Hygiene-Demonstrationen‘, die im Mai 2020 in verschiedenen deutschen Städten stattfanden, behaupteten notorische Verschwörungstheortiker bekanntlich, dass politische und gesellschaftliche Eliten die Pandemie dazu nutzen, um geheime, schon von langer Hand geplante Ziele in die Tat umzusetzen. Als solche Ziele wurden die Errichtung einer Weltregierung imaginiert oder auch der Umbau der deutschen Demokratie zu einer Diktatur – wogegen die Demonstranten mit der Parole ‚Wir sind das Volk‘ aufbegehren. Das Impfprogramm der Gates-Stiftung wird dabei als hinterlistiges Mittel denunziert, mit dem die Menschen gefügig gemacht werden sollen. Bill Gates gilt dementsprechend als Mastermind und heimlicher Profiteur der ‚Corona-Verschwörung‘.

Der Literaturwissenschaftler Michael Butter hat darauf verwiesen, dass solche, gegen Eliten gerichteten Verschwörungsvorwürfe besonders seit den 1960er Jahren virulent geworden sind. In den Jahrhunderten zuvor seien dagegen eher solche Vorwürfe die Regel gewesen, die von Obrigkeiten oder Regierungen gegenüber marginalen Akteuren und Gruppen (wie Hexen, Juden oder Freimaurern etc.) erhoben worden waren (Butter 2018: 173).

Tatsächlich gibt es gute Gründe, die verbreitete Eliten-Skepsis als ein historisch neuartiges Phänomen zu begreifen, das mit dem Strukturwandel moderner Gesellschaften seit den 1970er Jahren verbunden ist. Dazu zählen nicht nur eine wachsende ‚Ökonomie der Ungleichheit‘ oder eine Abschließung sozialer Milieus, die Abstiegsängste oder ein Gefühl mangelnder politischer Repräsentation evoziert haben (Reckwitz 2019). Auch die Transformation der Medienkultur ist daran maßgeblich beteiligt, indem sie die Kultivierung ‚alternativer Wahrheiten’ offenbar gefördert und zu einer Verunsicherung über das Verhältnis von Fakten und Fiktionen, sowie von Aufrichtigkeit und Heuchelei beigetragen hat.

Hier lohnt es sich allerdings, noch einmal genauer hinzuschauen. Tatsächlich gab es nämlich bereits seit dem hohen Mittelalter immer wieder Szenarien, in denen sich Verdächtigungen des Konspirativen verstärkt gegen bestimmte Eliten der Gesellschaft gerichtet haben. Dies konnten sowohl Vorwürfe sein, die in Konflikten zwischen führenden elitären Gruppen begegnen, als auch solche, die dezidiert von ‚unten‘ nach ‚oben‘ ventiliert wurden. Auch hier zeigt sich, dass dieser Verdacht mit einem Misstrauen gegenüber dem Verhältnis von Schein und Sein verbunden war.

Dass sich die Verschwörungstheorien des europäischen Mittelalters nicht zuletzt auf (imaginierte) gesellschaftliche Randgruppen wie Ketzer, Juden, Leprosen und Hexen bezogen und mitunter deren gezielte Verfolgung legitimierten, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber der Konspirationsvorwurf war nicht auf diese Akteure beschränkt, sondern stellte ein Deutungsschema dar, das auf das Handeln aller Gruppen der Gesellschaft bezogen werden konnte. Dies war zunächst darin begründet, dass die „Verschwörung“ (conjuratio/conspiratio) eine in mittelalterlichen Gesellschaften fest etablierte soziale Praxis der Vergemeinschaftung war (Oexle 2011; 1995). Stadtkommunen, Gilden und Zünfte, auch Universitäten waren typologisch betrachtet Schwureinungen.

In die Nähe einer ‚Verschwörungstheorie‘ rückten diese Deutungen im Mittelalter vor allem dann, wenn dabei heimliche Machenschaften zur Erreichung eines verborgenen Ziels unterstellt wurden. Der Vorwurf der Konspiration war zugleich eng verwandt mit dem Vorwurf der Heuchelei, der auf die Diskrepanz von Schein und Sein abzielte. Diese spezielle Mischung begegnete einerseits prominent im innerkirchlichen Kampf gegen scheinheilige Ketzer, expandierte aber seit dem hohen Mittelalter verstärkt auch ins politische Feld. Das Misstrauen gegen heuchlerische Berater im Umfeld der Herrscher wurde zu einer Keimzelle konspirativen Denkens. Über einen mächtig gewordenen Vertrauten König Edwards II. von England (gest. 1327) kamen etwa bald Gerüchte auf, die diesen als Täuscher, Intriganten und Betrüger brandmarkten, der mit Verbrechern kollaborierte und im Geheimen auf die Zerstörung des Reichs hinarbeitete (Bubert 2020b).

Einmal in der Welt, wurde es auch naheliegend, diese Denkfigur auf Kaiser, Könige und Päpste zu übertragen. In den Konflikten, die der französische König Philipp der Schöne (gest. 1314) mit Papst Bonifaz VIII. und dem Templerorden führte, verbreitete sich der Konspirationsverdacht in alle Richtungen. Königsnahe Quellen berichten von einem heimlichen Pakt zwischen dem Papst und dem König von England, dem der Pontifex viel Geld gezahlt haben soll, damit er einen Krieg gegen Frankreich beginne. Ebenso berufe Bonifaz nur zum Schein den französischen Klerus zu einer Synode nach Rom, um in Wahrheit einen Plan gegen den König auszuhecken. Dem Templerorden wiederum – keinesfalls eine Randgruppe, sondern eine ökonomisch und politisch mächtige Eliteorganisation – warf man nicht nur grausame Verbrechen und Blasphemie vor; auch der Vorwurf, die Tempelritter hätten nur zum äußeren Schein für die Christenheit gekämpft, in Wirklichkeit aber einen geheimen Pakt mit den Muslimen geschlossen, verbreitete sich in Europa. Der französische König blieb schließlich ebenfalls nicht verschont. Mehrere Chronisten wissen davon zu berichten, dass der Monarch die Templer keineswegs aus aufrichtigen Motiven heraus bekämpfte, sondern den verborgenen Plan verfolgte, die Güter des Ordens einzuziehen, um damit eigennützige politische Ziele zu realisieren (Bubert 2020a).

Ökonomische Interessen und politische Pläne wurden in der Folgezeit immer wieder im Rahmen von Konspirationstheorien unterstellt. Ins Visier konspirativer Verdächtigungen gerieten aber auch angenommene mächtige Geheimbünde, die aus hochrangigen Mitgliedern der Gesellschaft bestünden und globale Ziele und Interessen verfolgten. Zur Zeit der Pest des 14. Jahrhunderts, als die Verschwörungstheorie einer Brunnenvergiftung durch Juden weite Verbreitung erfuhr, vermuteten manche Zeitgenossen noch andere Drahtzieher hinter dem Geschehen. Eine geheime Gesellschaft, deren Angehörige reiche Männer seien, die hohe Posten und Ämter bekleideten, behauptete man 1350 in Norddeutschland hinter den Vergiftungen aufgedeckt zu haben. Hier waren es die städtischen Räte, die solche Untersuchungen durchführten und damit teilweise zu Ergebnissen gelangten, die der ‚offiziellen‘ Position der Kirche widersprachen. Die Bullen, in denen sich Papst Clemens VI. gegen die grassierenden Verschwörungstheorien zur Erklärung der Pest ausgesprochen hatte, blieben weitgehend wirkungslos, während die auch im Medium der Mündlichkeit verbreiteten Gerüchte einer planmäßigen Vergiftung auf große Resonanz stießen. Obwohl der Papst gegen die Konspirationstheorie argumentierte, kam es zu drastischen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung (Graus 1987; Cohn 2007). Die andersartige mediale Verbreitung verhalf also offenbar einer ‚alternativen Wahrheit‘ zur Geltung, die der Position ‚von oben‘ entgegen trat.

Dass dies gelingen konnte, ist nicht zuletzt darin begründet, dass die Verschwörungstheorie dabei an ein bestehendes Misstrauen gegenüber den führenden Vertretern der Kirche anschließen konnte. Seit dem hohen Mittelalter bildete der Vorwurf der Habgier (avaritia) ein zentrales Element der Kirchenkritik, das sich auch gegen die päpstliche Kurie richtete und den Verdacht auf ein heimliches Streben nach Reichtum aufkommen ließ. Wie sich diese Skepsis mit konspirativen Vorstellungen vermischen und die Verbreitung einer Verschwörungstheorie fördern konnte, wird in bezeichnender Weise anhand einer Papstkarikatur deutlich, die ein Frankfurter Ratschreiber in der Zeit um 1450 anfertigte. Der Zeichner zeigt eine Papstfigur, die von zwei Juden bestochen und manipuliert wird. Während der eine Jude auf dem Rücken des Pontifex sitzt und ein Schweinsbanner in der Hand hält, reicht ein zweiter Jude dem Papst von unten Münzen an. Damit wird ein Szenario jüdischer Weltverschwörung entworfen: Die reichen Juden erscheinen als Drahtzieher, die sich die christliche Obrigkeit durch Bestechung dienstbar machen. Weil Papst und Kirche verdorben und habgierig sind, lassen sie sich von den angeblichen Feinden Christi kaufen. Wer solche Vorstellungen hatte, konnte sich vom päpstlichen Einspruch gegen die Verschwörungstheorien zur Pestzeit freilich ein stimmiges Bild machen: Die Tatsache, dass Clemens VI. den Juden 1348 und 1349 Schutzbullen ausgestellt hatte, war für den Zeichner der Karikatur offenbar nur darauf zurückzuführen, dass der Papst sich von Juden bestechen ließ (Heil 2005; 2004). Hieran wird deutlich, dass die Theorie einer jüdischen Konspiration nicht einfach eine von Eliten gegen Randgruppen eingesetzte Behauptung darstellt, sondern als Alternative zur hochkirchlichen Position auch zum Ventil einer Skepsis gegenüber den klerikalen Eliten werden konnte. Die entscheidende Rolle, die dieses grundlegende Misstrauen spielt, verweist darauf, dass die Vermutung einer jüdischen Verschwörung im Mittelalter in größeren diskursiven Zusammenhängen steht (Bubert 2020b).

Eventuell verbirgt sich hinter dieser vordergründigen Ebene aber noch eine weitere, tiefgreifendere, die die Reichweite der hier bildlich veranschaulichten Verschwörungstheorie noch einmal erheblich ausweitet: Bei der Gestalt mit der Tiara handelt es sich womöglich nicht um den Papst, sondern um den in Papstgestalt auftretenden Antichristen, der von der mittels antisemitischer Stereotypen karikierend als Jude gezeichneten Gestalt manipuliert wird, die in der Hand das über der ganzen Szene schwebende Schweinsbanner führt, das Symbol der unreinen Gegenkirche. Wenn diese Deutung zutrifft, vertritt die Papstgestalt also den Antichristen, der von zwei Juden gelenkt wird, womit das Bild der vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung auf einer frühen Stufe veranschaulicht wird; geheime Mächte würden sich etablierter Eliten bedienen, um gegen die Allgemeinheit gerichtete, eigennützige Ziele zu verfolgen. Zugleich würde so das hierarchische Oberhaupt der römischen Kirche, der Nachfolger des Apostelfürsten und Stellvertreter Christi, als das Gegenteil dessen entlarvt, was er zu sein beansprucht, als Antichrist bzw. als dessen Vertreter. Prononcierter hätte Elitenkritik nicht zum Ausdruck gebracht werden können. Bezeichnend ist auch, dass diese Kritik insgeheim geäußert wird, als Marginalie in einem Kopialbuch der Frankfurter Überlieferung, also gewissermaßen in einem verschwörerischen, geheimniskrämerischen Gestus, als dezenter Hinweis, der die offizielle Urkundenüberlieferung kommentiert, indem er deren geheimen Sinn zu entlarven vorgibt. Die typische Form körperbezogener Differenzmarkierung bei den beiden Juden (Nase, Judenhut und gelber Fleck) ist nach den Forschungen Johannes Heils erstmals in England aufgetreten, und das bereits im 13. Jahrhundert, also wesentlich früher als auf dem Kontinent (Heil 2005). Die Frankfurter Karikatur greift diese älteren englischen Traditionen auf und akzentuiert sie im Vorfeld der sich anbahnenden topographischen Marginalisierung der Frankfurter jüdischen Gemeinde, deren Mitglieder 1462 erstmals in einem eigenen Viertel, der Judengasse, am Stadtrand zusammengepfercht wurden. Sie erinnert daran, dass Verschwörungstheorien seit dem Mittelalter häufig von antijüdischen und antisemitischen Motiven durchdrungen sind, nicht erst seit den berüchtigten Protokollen der Weisen von Zion. Sie konnten dabei an eine bestehende Tradition antijüdischer Vorurteile anschließen, die sich bereits lange zuvor konstituiert hatte (Drews 2019; Funkenstein 1993)

Der Papst als Marionette der Juden, Zeichnung in einem Kopialbuch ca. 1450
© exc

Eine andere elitäre Gruppe der Gesellschaft, die Universitätsgelehrten, hatte sich während der Pestjahre ebenfalls nicht nur Freunde gemacht. Die astrologische Erklärung, die etwa die Medizinische Fakultät von Paris im Oktober 1348 in einem Gutachten für den französischen König Philipp VI. formulierte, wurde zwar rezipiert, schien aber das Elend nicht aus der Welt zu schaffen. Angesichts der von vielen Zeitgenossen geäußerten Kritik, dass die gelehrten Experten über die Ursachen der Pest nichts Sicheres sagen könnten, erschienen die Erklärungen, die menschliche Drahtzieher und Machenschaften postulierten, mitunter attraktiver. Und während die Kritik an der Wissenschaft teilweise gerade von denjenigen kam, die die Annahme einer jüdischen Konspiration propagierten, so ist es bezeichnend, dass manche akademisch Gebildeten gegen die homines populares polemisierten, die in ihrer Schlichtheit nicht einsehen wollten, was die Gelehrten doch seit langem nachgewiesen hätten. Sich zu einer bestimmten Deutung zu bekennen (und eine andere abzulehnen) konnte also offenbar Teil einer Distinktionsstrategie zwischen sozialen Gruppen sein. Die Verschwörungstheorie bediente damit auch eine Feindseligkeit gegenüber der akademischen Elite, deren Expertise das große Sterben nicht verhindert hatte.

Dass eine Ausweitung der Kommunikationsmöglichkeiten durch ‚neue’ Medien den gesellschaftlichen Diskurs nicht notwendigerweise rationalisiert, sondern vielmehr auch Multiplikatoren für alle möglichen Verschwörungsphantasien eröffnet, gehört zu den irritierenden Erfahrungen mit ‘Social Media’. Auch die erste Medienrevolution, nämlich die Durchsetzung der Drucktechnik im 16. und 17. Jahrhundert, führte zu einer explosionsartigen Vermehrung von Verschwörungserzählungen (Zwierlein 2020), und es war daher kein Zufall, dass das Zentrum der Gutenberg-Galaxis, nämlich London mit seinen zahllosen Publizisten, Zeitungsmachern und Druckereien, auch zum Hotspot der Verschwörungstheoretiker im frühneuzeitlichen Europa wurde (Krischer 2012).

1678/79 war z.B. ein großer Teil der Menschen in der englischen Metropole davon überzeugt, dass auf Geheiß von Papst Innozenz XI. Jesuiten einen Plan ausgeheckt hatten, um König Karl II. zu ermorden, die Protestanten in England zu massakrieren und das Land wieder unter die Herrschaft Roms zurückzuführen. Mindestens 16 englische Katholiken wurden wegen dieser, von dem gescheiterten Jesuitenschüler Titus Oates frei erfundenen Geschichte hingerichtet. Zahlreiche Flugschriften und bebilderte Drucke brachten sie unter die Stadtbevölkerung, selbst Spielkarten und sogar Kacheln wurden mit Bildern über den angeblichen ‚Popish Plot‘ bedruckt (Krischer 2019).

Eine Spielkarte, die Papst und Kardinäle beim Planen der (von Titus Oates ausgedachten) Verschwörung zeigt, 1679
© wikimedia commons
Die (ausgedachten) Verschwörer unterschreiben ihr (ausgedachtes) Manifest, Kachel, ca. 1680, British Museum 2009,8014.10
© gemeinfrei nach CC BY-NC-SA 4.0

Im November 1679 brachte Oates’ Lügengeschichte dann fast 200.000 Menschen auf die Straßen Londons, die dort eine aufwändig gestaltete Spottprozession bejubelten, bei der Figuren des Papstes und anderer katholischer Kleriker zunächst quer durch die Stadt getragen und am Ende verbrannt wurden. Diese Umzüge wurden 1680 und 1681 wiederholt. Sie zeigen, dass konspirationistische Radikalisierung nicht nur über suggestive Druckmedien erfolgt, sondern auch durch das massenhafte, persönliche Zusammentreffen von Gleichgesinnten - ein Phänomen, das auch von den ‚Hygiene-Demos‘ bekannt ist, die zunächst online vorbereitet und deren Botschaften dann in Berlin, Stuttgart oder Düsseldorf auf Straßen und Plätze getragen wurden.

Die ‚Pope Burning Procession’ in London von 1679
© wikimedia commons

Zurück ins Jahr 1679: Der König, dessen Leben ja angeblich bedroht war, betrachtete den ausufernden Konspirationismus jedoch mehr als skeptisch. Denn es war für die Zeitgenossen klar, dass sich hier nicht nur traditionelle anti-katholische Ressentiments Bahn brachen, sondern sich die Proteste auch gegen den Hof und vor allem gegen seinen jüngeren, offen katholischen Bruder Jakob richteten. Da aber Jakob seinem Bruder, der keine legitimen Nachkommen besaß, auf dem Thron folgen würde, besaß sein Glaube politische Sprengkraft: Die Horrorvorstellung eines katholischen Königs, der über mehrheitlich protestantischen Engländer herrschte, drohte wahr zu werden.

Verschwörungstheorien als ‚Elitenkritik‘ also auch hier - aber nicht ohne die Mitwirkung von Eliten selbst: Ein Kreis radikaler Oppositioneller, die seit dieser Zeit Whigs genannt wurden, befeuerte die Zirkulation der ‚Fake News‘ von der ‚Papistenverschwörung‘ zusätzlich und formte, nachdem der Glaube daran 1681 abebbte, sogar selbst einen konspirativen Zirkel, in dem man zumindest laut über ein Attentat auf König und Thronfolger nachdachte.

Als Gegenmittel versuchte man bereits damals, Verschwörungstheorien lächerlich zu machen. Dafür wurden die gleichen Medien genutzt, mit denen diese Theorien zunächst selbst verbreitet worden waren, nämlich Bildergeschichten - in diesem Fall aber grotesk verzerrt und einem Comicstrip nicht unähnlich. Auf diese Weise entstanden zwar machtvolle Gegenerzählungen, die etwa darauf verwiesen, wie unplausibel, weil praktisch unmöglich, die unterstellten Machenschaften tatsächlich waren. Aber ebenso wenig wie heute führten Spott und das Aufzeigen von Widersprüchen in den 1680er Jahren zum Verschwinden des Konspirationismus. Vielmehr stärke Spott die jeweils stigmatisierte Gruppe.

Eine Art Comicstrip, mit dem der ‚Popish Plot’ lächerlich gemacht werden sollte, um 1682, British Museum 1843,0513.147
© gemeinfrei nach CC BY-NC-SA 4.0.

Als Schlüssel zur Deutung aller möglichen Krisen blieben Verschwörungstheorien daher ein Kennzeichen der englischen Geschichte, die damit fast schon lehrbuchartig für die ambivalenten Folgen einer Medienrevolution steht. Der Bürgerkrieg 1642-1649 galt ebenso als das Werk von Verschwörern (Lake 2015) wie die gewaltige Spekulationsblase von 1720. Bei dieser ‚South Sea Bubble‘ sahen ruinierte Kleinaktionäre zwar nicht mehr Jesuiten und den Teufel am Werk, wohl aber eine elitäre Clique von im Verborgenen operierenden Profiteuren, vor deren Strippenzieherei sie auch Gott nicht beschützen konnte (Lindeman 2015: 254). Als zur gleichen Zeit die Pest wiederzukehren drohte und die Regierung Schutzmaßnahmen erwog, gab es Geraune darüber, dass hier in Wahrheit ein Willkürregiment vorbereitet werde. Und während dann im Europa des frühen 19. Jahrhunderts alle möglichen Reformbewegungen von den Restaurationsregimen als Verschwörerbanden kriminalisiert wurden, wuchs umgekehrt der Glauben an eine ‚Conspiration der Bourgeoisie’ gegen das einfache Volk und seine sozialen Anliegen.

Wenn der Glaube an Verschwörungen, wie Butter zu Recht feststellt, bis ins frühe 20. Jahrhundert ein legitimes, in allen gesellschaftlichen Schichten geteiltes Wissen war, dann verwundert es nicht, dass dieses Wissen auch schon lange vor den ‚Hygiene-Demos‘ gegen diejenigen, die man für Elite hielt – und dazu zählten auch Experten – mobilisiert werden konnte. Dahinter mochten Konflikte zwischen sozialen Gruppen stehen, die sich in kultureller und religiöser Hinsicht voneinander abgrenzten und unterschiedliche Weltdeutungen gegeneinander profilierten. Eine Verschwörungstheorie konnte für eine Gruppe identitätsstiftend werden und gleichzeitig Ablehnung gegenüber den Denkformen und Werten anderer Gruppen evozieren. Wenn dies mit einer Skepsis gegenüber dem äußeren Schein, der sichtbaren Fassade anderer Akteure einherging, war es naheliegend, auch den Eliten einer Gesellschaft zu misstrauen und hinterhältige Machenschaften zu unterstellen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Verschwörungstheorien schon seit dem Mittelalter häufig von antijüdischen und antisemitischen Motiven durchdrungen sind. Obwohl Bill Gates (wie der Papst im Mittelalter) nicht dem Judentum angehört, lassen sich doch Elemente der Dämonisierung von ihm und seiner Stiftung auf antisemitisch grundierte Skandalisierungsmuster zurückführen, mit deren Hilfe archetypische Bedrohungsszenarien in der Öffentlichkeit abgerufen und aktiviert werden können. Anstelle der Juden wurden in der Frühneuzeit zwar andere ‚Agenten des Bösen’ imaginiert. Deren Rolle aber blieb in den jeweiligen Verschwörungstheorien im Grunde gleich.

Die tendenzielle Verschiebung des Konspirationsvorwurfs von Randgruppen zu Eliten, die man für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts konstatiert hat, erscheint damit weniger als historische Zäsur, sondern allenfalls als Intensivierung eines Phänomens, das durch die dynamischen Relationen sozialer Gruppen in europäischen Gesellschaften bereits lange zuvor strukturell angelegt war. Gleichwohl lassen sich bezeichnende Unterschiede hinsichtlich der Bedingungen erkennen, unter denen die jeweiligen Deutungen verbreitet und durchgesetzt werden konnten. Die etablierten Eliten, die Außenseiter oder andere elitäre Gruppen stigmatisieren, agierten auf einer anderen sozialen Ebene als die ‘verhinderten Eliten’, insofern sie mit anderen Ressourcen ausgestattet sind. Während verhinderte Eliten, die selbst nicht über Macht verfügten, Verschwörungsvorwürfe mitunter einsetzten, um die Legitimität der Mächte zu bestreiten, konnten diese wiederum Konspirationstheorien als strategisches Mittel zur Stabilisierung oder Erhaltung ihrer Position verwenden. Dass sich hingegen heute keine Verschwörungstheorien finden, die von demokratisch legitimierten Eliten ausgehen (wohl aber von Autokraten), scheint mit neuen Legitimationsformen von Macht verbunden zu sein, die eine Veränderung der ‘Spielregeln’ zur Folge hatten. Verschwörungstheorien verhinderter Eliten aber gibt es sehr wohl - immer noch.

Literatur

  • Andreas Anton/Michael Schetsche/Michael Walter (Hg.) (2014), Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, Wiesbaden.
  • Malcolm Barber, The Trial of the Templars, Cambridge 2003.
  • Marcel Bubert (2020a), Mit Fake News gegen die Verschwörung? Heucheleidiskurs, Evidenzproduktion und Deutungsmacht im Umfeld Philipps des Schönen von Frankreich (1285-1314), erscheint in: Verstellungskünste. Religiöse und politische Hypokrisie in Literatur und bildender Kunst, hg. von Pia Döring, Bielefeld.
  • Marcel Bubert (2020b), Verschwörungstheorien und Fake News vor der Aufklärung? Zur Formierung von Zeichenskepsis, Heucheleidiskurs und Konspirationismus im europäischen Spätmittelalter, erscheint in: Mit Fiktionen über Fakten streiten. Fake News, Verschwörungstheorien und ihre kulturelle Aushandlung, hg. von Vera Podskalsky und Deborah Wolf (PhiN, Beiheft 21).
  • Marcel Bubert, Omnium inventor et seminator. Die Geburt des Konspirationismus im späten Mittelalter, erscheint in: Historische Zeitschrift.
  • Michael Butter (2018): ‚Nichts ist, wie es scheint’. Über Verschwörungstheorien, Berlin.
  • Samuel Kline Cohn (2007), The Black Death and the Burning of Jews, in: Past and Present 196, S. 3-36.
  • Wolfram Drews (2019), Anti-Jewish Treatises in Visigothic Spain, in: Das Christentum im frühen Europa. Diskurse – Tendenzen – Entscheidungen, hg. von Uta Heil (Millennium Studies 75), Berlin/Boston, S. 369-385.
  • Amos Funkenstein (1993), Changes in Christian Anti-Jewish Polemics in the Twelfth Century, in: Ders., Perceptions of Jewish History, Berkeley, S. 172-201.
  • František Graus, Pest – Geissler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987.
  • Boris Groys (2000), Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München.
  • Johannes Heil (2005), Jude und Papst – Antichrist und Teufel. Zur Vorstellung von ‚jüdischer Verschwörung‘ im Mittelalter, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14, S. 147-160.
  • Johannes Heil (2004), Die Zeichnung eines Frankfurter Ratsschreibers (ca. 1450) und die Vorstellung von ‚jüdischer Verschwörung‘ im Mittelalter, in: „… Ihrer Bürger Freiheit“. Frankfurt am Main im Mittelalter, hg. von Heribert Müller, Frankfurt a.M., S. 175-195.
  • Krischer, Andre (2012), Verräter, Verschwörer, Terroristen. Juristische Klassifikationen, gesellschaftliche Wahrnehmungen und Visualisierungen von politischer Delinquenz und kollektiver Bedrohung in Großbritannien, 16.-19. Jahrhundert, in: Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus: Fallstudien zur politischen Kriminalität und Justiz zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert, hg. v. Karl Härter und Beatrice de Graaf, Frankfurt a.M., S. 103-160.
  • Krischer, Andre (2019), ›Papisten‹ als Verräter. Gewaltimaginationen und Antikatholizismus im frühneuzeitlichen England, in: Verräter. Geschichte eines Deutungsmusters, hg. von Andre Krischer, Köln/ Weimar/ Wien, S. 175-194.
  • Peter Lake (2015), Post-Reformation Politics, or on Not Looking for the Long-Term Causes of the English Civil War, in: The Oxford Handbook of the English Revolution, hg. von Michael J. Braddick, Oxford, DOI: 10.1093/oxfordhb/9780199695898.013.002.
  • Mary Lindeman, The Merchant Republics: Amsterdam, Antwerp, and Hamburg, 1648–1790, Cambridge 2015.
  • Otto Gerhard Oexle (2011), Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter, in: Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung, historische Kulturwissenschaft, Geschichte und Theorie der Erkenntnis, hg. von Bernhard Jussen, Andrea von Hülsen-Esch und Frank Rexroth, Göttingen, S. 569-594.
  • Otto Gerhard Oexle (1995), Die Kultur der Rebellion. Schwureinung und Verschwörung im früh- und hochmittelalterlichen Okzident, in: Ordnung und Aufruhr im Mittelalter. Historische und juristische Studien zur Rebellion, hg. von Marie Theres Fögen, Frankfurt a.M., S. 119-137.
  • Andreas Reckwitz (2019), Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Frankfurt a.M.
  • Cornel Zwierlein (2020), Conspiracy theories in the Middle Ages and the early modern period, in: Routledge handbook of conspiracy theories, hg. von Michael Butter und Peter Knight, Abingdon/ New York 2020, S. 542-545.