Der Joker der Verschwörung – Verschwörungstheorien als negativer Glaube
Von Religionssoziologe Prof. Dr. Levent Tezcan
Ken Jebsen hat sich ein Joker-Face gemalt. „Was haben wir für eine Scheißangst!“, mit diesem Satz eröffnet er sein Manifest. Mal konspirativ flüsternd, mal Wortsalven in Rage abfeuernd, ironisch, sarkastisch, kämpferisch-revolutionär rollt er einen Themenknäul mit mehreren Fäden auf, um sie dann in einem simplen Komplott des ‚Systems‘ gegen die ‚Gesellschaft‘, gegen ‚uns‘ zusammenlaufen zu lassen. In dieser 45 Minuten lange eloquenten Rede mit hoher schauspielerischer Performanz, die Weltdeutung des Edeljokers in KenFM-Video „Gesicht zeigen“, präsentiert sich der Geist in seiner grenzenlosen Kreativität, wenn es darum geht, alles mit allem verbinden zu können. Der vorliegende Beitrag interessiert sich für die Figur, weil in ihr eine um sich greifende Befindlichkeit unserer Gegenwart zum Ausdruck kommt: Verschwörungstheorien als negativer Glaube.
Verschwörungstheorien als Lückenbüßer?
Der Einmannvortrag von Ken Jebsen beweist einmal mehr, dass Verschwörungstheorien eine legitimatorische Lücke füllen möchten, die Wissenschaft, Politik und Religion je auf ihre Weise erzeugen oder zumindest hinterlassen. Zunächst ist das Verhältnis zur Wissenschaft zu erwähnen. Die weitverbreitete Annahme, dass die Verschwörungstheorien dem wissenschaftlichen Denken vollkommen fern wären, wurde mehrfach zurückgewiesen (Detlef Pollack in diesem Dossier). Gerade in der säkularisierten Welt können die Verschwörungstheoretiker ihre Wissenschaftlichkeit nicht genug hervorheben, in der es andere Begründungssysteme ohnehin schwer haben, Gehör zu finden. So schlägt die Medizin nahezu konkurrenzlos Maßnahmen vor, die den Alltag der Menschen im erheblichen Maße einschränken. Sie kann und will aber keine Antwort auf die Sinnfrage geben, die sich aus der Krisenerfahrung ergibt. Die Menschen erscheinen aus ihrer Perspektive notwendigerweise als Virenschleuder, die jetzt voreinander geschützt werden sollen. Alles andere fällt systemlogisch aus dem Blickfeld. Verschwörungstheorien übernehmen die Funktion der Sinngebung in sinnloser Ausbreitung des Virus. Es muss jemand schuld daran sein. Es ist aber ein negativer Sinn, nämlich ein Sinn im Sinne des Betrogen-worden-seins.
Ebenfalls übernehmen sie, wie Ken Jebsen mit seiner Stellungnahme, die Aufgabe der politischen Kritik, auf die während der Corona-Krise zumindest im Anfang größtenteils freiwillig verzichtet wurde. So zeichnet Jebsen in seiner Rede immer wieder eine Allianz der ‚systemkonformen Schweiger‘ von links bis zur Spitze der AfD (im Vortag immer nur von der Spitze die Rede, wenn es um die AfD geht) an. Man könnte in der Tat durchaus ein wenig davon irritiert gewesen sein (mehr sei hier nicht behauptet), dass selbst die eingespielten ‚Systemkritiker‘ von links sich zumindest anfangs weitgehend an die Regeln des ‚kapitalistischen Schweinesystems‘ hielten. Jebsen fügt auch die Kunst- und Kulturszene hinzu, die sich doch ebenfalls von Berufs wegen mit Nonkonformismus rühmt. In einer Orgie von Verweisen malt der Edeljoker Jebsen einen totalitären Staat aus, der mindestens so schlimm sei wie der Nationalsozialismus und die SED-Diktatur. Und die Linken, die Antifas würden so unkritisch, so autoritätshörig alles mitmachen: „Bei uns, ab 5:45 wird zurückgeimpft!“ Auf den sogenannten Hygiene-Demos treten welche mit Judenstern und Plakaten ‚2020 = 1933‘ auf, um auf den Holocaust aufmerksam zu machen, der mit den Corona-Maßnahmen im Gange sei. Sicher können Psychoanalytiker zu solchen ‚Verschiebungen‘ einiges sagen. Nazi-Vergleiche, die sonst im linken Lager beheimatet sind, wandern jedenfalls seit einiger Zeit auch in die Kreise, die nicht nazi-frei sein dürften.
Auch und gerade Religion scheint eine Leerstelle zu hinterlassen. In einem weiteren Video lässt Jebsen zwei freikirchliche Pfarrer zu Wort kommen, die sich kritisch von der Haltung der Großkirchen distanzieren. Sie wollen sich in ihren Rollen während der Pandemie nicht darauf beschränken, mit Glockenläuten und Online-Predigten Trost zu spenden, und ansonsten dazu aufzurufen, zuhause zu bleiben. „Fürchtet euch nicht“, an diesen biblischen Spruch wollen sich die beiden Pfarrer, die wir hier nicht mit Verschwörungstheoretikern gleichsetzen wollen, in ihrem Wirken in Zeiten der Pandemie halten, wenn sie die Älteren nicht alleine sterben lassen wollen. Ist hier ein Beleg für eine restlose Anpassung der Großkirchen an die Welt der Medizin und Politik? Falls das zutrifft, dann könnte man daraus folgern, dass dies in der Tat eine Leere entstehen lässt. Tatsächlich wird die Haltung der Kirchen auch innerkirchlich kritisch bewertet. So nimmt Christine Lieberknecht im Wochenmagazin Die Zeit vom 2. Juli 2020 kritisch Stellung dazu (zum Umgang der Kirchen mit der Krise s. Wischmeyer in diesem Dossier). Wäre etwa die Beobachtung nicht partiell begründet, dass die Sorge um das ‚nackte Leben‘ auch für die Kirche, zumindest zeitweilig, zum zentralen Bezugspunkt geworden ist? Wie ist es unter diesen Bedingungen um den Glauben bestellt? Können die Verschwörungstheorien nicht auch hier Resonanzen schaffen, die sonst mitunter von den Religionen kamen?
Eine dritte Funktion, die Funktion der freien Presse, will Jebsen ebenfalls mit seinem Vortrag übernehmen, wenn er andere Experteneinschätzungen zur Pandemie ins Spiel bringt. Ähnlich wie im Falle der anfänglichen Abwesenheit der politischen Kritik und des christlichen Wagemuts in Krisenzeiten wird sich die Presse mit der Frage befassen müssen, inwiefern denn hier auch solche Stimmen, zumindest im Beginn der Epidemie, tatsächlich zu Wort kommen konnten, die mit der Einschätzung der Gefahrenlage und den Maßnahmen der Regierung nicht einverstanden waren. Das ist jedenfalls durchaus eine strittige Frage, auf die es keine einfache Antwort geben dürfte.
Diese Hinweise rechtfertigen keineswegs die verschwörungstheoretische Grundanlage der Thesen von Jebsen und den anderen. Sie geben aber einen ersten Hinweis darauf, dass die Verschwörungstheorien nicht vom Himmel fallen. Nun, so wie sie bestimmte Funktionen erfüllen, die von der Wissenschaft, Religion und Presse (nicht) erfüllt werden (können/sollen), so kann man die Verschwörungstheorien zugleich als Symptome verstehen, die etwas über unsere Gegenwart erzählen. Auf welche Weise antworten sie auf die tatsächliche oder vermeintliche Lücke? Die Maske, die sich Jebsen aufsetzt, gibt Hinweise darauf. Der Joker steht im Falle Jebsens für das tiefe Misstrauen, ja gar für den unendlichen Hass, der sich gegen ‚das System‘ wendet. ‚Das System‘, das ‚die da oben‘ kontrollieren, ist der Angriffspunkt, an dem sich die immer tiefer gezogene Spaltung der Gesellschaften der Gegenwart legitimiert. Verschwörungstheorien sind Orte wie Symptome dieser Spaltung. Sie verselbständigen sich zu einem quasi-religiösen Glauben ohne Erlösungsvisionen: ein durch und durch negativer Glaube, Glaube des Hasses, mit dem wir bei allen konjunkturellen Schwankungen dauerhaft rechnen müssen.
Jeder Epoche sein Joker
Wer ist der Joker, mit dem Ken Jebsen Gesicht zeigt, um ‚dem System‘ die Maske abzunehmen? Welcher Joker ist das, welch einer von den Jokers, die abermals filmisch dargestellt worden sind? Es gibt tatsächlich mehrere Darstellungen der Comic-Figur aus Batman-Geschichten. Auf zwei Joker-Typen will ich hier abheben. Ich fokussiere deshalb auf die beiden, weil sie bei aller scheinbaren biographischen Kontinuität, die zumindest die erzählerische Grundlage der jüngeren Verfilmung bildet, definitiv zwei unterschiedliche Subjekttypen in entgegengesetzten Affektlagen verkörpern. Ich nummeriere beide Joker-Filme mit 1 und 2. Der eine Joker, Joker 1, ist ein Anarchist oder auch ein Edelnihilist, der den Menschen zeigen will, wie verlogen, wie selbstsüchtig sie trotz ihrer hehren Moral sind. Unter existenzieller Bedrohung sind die Menschen bereit, so die Botschaft des Jokers 1, ihre moralischen Grundsätze über Bord zu werfen. Der andere Joker, Joker 2, das herumgeschubste Opfer ‚des Systems‘ hat hingegen „nur negative Gefühle“ (so sagt er es auch selbst in einer Szene), die sich stauen, um am Ende ziellos entladen zu werden.
Ken Jebsen dürfte sich den Joker 2 zum Vorbild genommen haben. Der erste Joker heckt geniale Verschwörungen aus, eignet sich aber nicht als Symbol für die Verschwörungstheorien. Der Joker 2 unternimmt hingegen nichts dergleichen in Richtung von Verschwörungen; er wird nur gepeinigt, gibt aber die beste Vorlage für die Verschwörungstheorien ab. Das will ich hier erläutern.
Joker 1 ist der Böse in Batman Dark Knight (2008), gedreht von Christopher Nolan, gespielt von Heath Ledger. Die Geschichte geht kurz zusammengefasst wie folgt: Batman, der nachts agierende Superheld von Gotham-City (alle wissen es: New York City), macht den Kriminellen der Stadt zu schaffen. Diese suchen ihre Rettung in Joker, einem Genie, der mit seinen exzellent geplanten Anschlägen die Stadt in Chaos stürzt, ja willentlich das Chaos herbeibombt. Da ist auch der neue Staatsanwalt, der ‚White Knight‘ der Stadt, der aufrichtig, unbestechlich und gesetzestreu ist – alles Eigenschaften, die in Gotham-City äußerst rar anzutreffen sind. Er will den Kriminellen das Handwerk legen.
Joker 1 steht noch in der ‚alten‘ Welt, in der die Dialektik von Gut und Böse intakt ist. In dieser Welt gibt es keine Fake News oder alternative Wahrheiten, sondern noch Wahrheit und Lüge sowie Gut und Böse, wobei sie nicht sauber auseinanderzuhalten sind – das macht die Stärke des Filmes aus. Der Schurke setzt die Arbeit von Satan fort, die uns aus der Religionsgeschichte nur allzu vertraut ist. Es ist derselbe Satan, der eine Wette mit Gott um Hiob eingeht. Diese biblische Rolle wird auch in der islamischen Tradition fortgespielt, indem Satan mit Gott um die gesamte Schöpfung eine Wette eingeht. Gott gewährt ihm bis zum Ende der Zeiten freien Spielraum, in dem dieser alles tun und lassen darf, um die Menschen von rechten Weg abzubringen. Wir bleiben aber bei der westlich-christlichen Version, da die Geschichte hier weiter erzählt wird. Der Satan, Joker 1, will beweisen, dass die Menschen bereit sind, ihre hehre Moral über Bord zu werfen, wenn es um ihre eigenen Interessen geht. Das Interesse ist hier jeweils an eine existenzielle Entscheidung gebunden. So kreiert Joker 1 immer wieder Situationen, in denen die Menschen eine Schicksalsentscheidung treffen müssen, bei der entweder nur sie und ihre Angehörigen oder die anderen überleben können. Dieser moralische Ausnahmezustand, von dem aus der Joker 1 handelt, wird in der Schlussszene des Filmes ins Äußerste gesteigert. In zwei innerstädtischen Fähren sind Bomben platziert. Passagiere halten den Knopf für die Bombe jeweils in der anderen Fähre. Wer also zuerst auf den Knopf drückt, hat die Gewissheit, nicht zu sterben – Gewinner ist dann der Joker: ein wahrhaft diabolisches Spiel, das eine echte moralische Entscheidung verlangt. Ist der Teufel nicht genau der Name, den die Religionen für dieses Moment der Unentscheidbarkeit, kreiert haben?
Der Böse in Dark Knight bekämpft das Gesetz. Er negiert aber das Gesetz nicht, in seinem Kampf gegen das Gesetz bestätigt er vielmehr das Gesetz. Ja, seine Existenz ist intrinsisch verbunden mit der Existenz des Gesetzes, dessen Unmöglichkeit er vor die Augen führen will. Ohne das Gesetz wäre der Joker 1 ein Nichts, das wird auch in den Dialogen im Film immer wieder reflektiert. Indem der Joker 1 mit allen Mitteln versucht, bloßzulegen, dass die Menschen es mit ihrem moralischen Gesetz (das Gute tun) unmöglich ernstmeinen können, dass sie heuchlerisch, korrupt, egoistisch sind, dass das Böse also nicht außerhalb ihrer Reichweite, sondern im Kern ihres Wesens ist, beweist er nur die menschliche Schwäche, nicht die Lächerlichkeit des Gesetzes. Tatsächlich wird das auch erzählerisch in Szene gesetzt, indem die Figuren, die für das Gute, für das Gesetz eintreten, Wandlungen durchmachen, wo sie kaum mehr vom Joker 1 zu unterscheiden sind. Das ist auch tatsächlich die einzige ‚Verschwörung‘, die der Böse ganz und gar beabsichtigt. Er bekennt sich aber zu seiner Verschwörung offen. Das Gute und das Böse gehören zusammen. Darum können die Verschwörungstheoretiker unmöglich mit diesem Joker etwas gemein haben. Es gibt für sie nie eine echte Entscheidung, weil das Gute und Böse immer schon säuberlich voneinander geschieden sind und keine Ambivalenzen denkbar sind.
Noch eine Eigenschaft von Joker 1 sei hier kurz umrissen. Es ist das Fehlen der Rache, die Nietzsche als einen niederen Instinkt bezeichnet. Joker 1 setzt die halbe Stadt in Schutt und Asche, er tut es aber nicht aus Rache. Gegen wen sollte sich denn die Rache überhaupt richten? Kleingeistige Kriminelle, die Böses nur wegen so was Lächerlichem wie Geld tun, sind genauso seine Opfer wie die ökonomisch-bürokratisch-politische Elite der Stadt. Aber auch Unschuldige werden stets vor Entscheidungen gestellt, dass sie gezwungen werden, sich für eine Sache, eine Seite zu entscheiden. Insofern gibt es hier weder Schuldige noch Unschuldige im reinen Zustand. Auffallend ist, dass dabei keine Opfergeschichte erzählt wird. Nirgends hat man den Eindruck, dass der Böse aus Mangel an Anerkennung, aus Missachtung, aus Diskriminierung, also aus Rache an den Peinigern handelt. Es gibt hier keine ernstgemeinte Biographie, die irgendwie von den miserablen Lebensumständen, von Misshandlungen, die das Subjekt erleidet, zu den gewaltsamen Handlungen geführt hätte, für die man dann irgendwie Verständnis hätte empfinden können, ja nach unserem diskriminierungssensibilisierten Zeitgeist empfinden müssten. Im postheroischen Zeitalter können nämlich Schlecht-weggekommene mit einem Vorschuss an Sympathie rechnen.
Joker 2 ist die Hauptfigur in dem gleichnamigen Film (2019), gedreht von Todd Philipps, gespielt von Joachim Phoenix. In diesem Biographie-Film wird rückblickend der Werdegang des Jokers erzählt. Joker ist hier, bevor er zum genialen Terroristen geworden ist, ein drittklassiger Clown, der sich mit dem großen Fernsehentertainer (Roberto Niro) identifiziert und von einem Auftritt im Fernsehen träumt. Er führt buchstäblich ein miserables Leben. Tagtäglich wird er schikaniert, verprügelt, am Ende verliert er zudem noch staatliche Unterstützungsleistungen, die er aber in seinem physisch wie psychisch desolaten Zustand dringend benötigt. ‚Er ist nicht systemrelevant‘, könnte man heute sagen. Immer wieder gerät er unvermittelt in ein zwanghaftes Lachen. Nichts vom unbekümmert schallenden Gelächter des genialen Chaosstifters, des Vorgängers, besitzend, schafft er, mehr zufällig als durch eigene Anstrengung errungen, doch noch in die Sendung seines Idols, wo er endlich mit einem Joker-Face erscheint. Endlich dort angekommen, wo er immer hinwollte, erschießt er aus heiterem Himmel während der Live-Sendung den Mann, der sein Idol, gewissermaßen seine Vater-Figur war. Auf einmal erscheint dieses Idol ihm als das Symbol ‚des Systems‘ von ‚denen da oben‘; er rächt sich für alles, nicht nur für das, was er erlitten hat, sondern auch was er selbst begehrt hat. Das, was er begehrt, hat er nicht – weil er aber nur Begehren und Misserfolg kennt, hat das Begehren ihn und ergreift Besitz von all seinen Gedanken. Er tötet schließlich sein eigenes Begehren. Als hätte die Stadt auf dieses Zeichen gewartet, stürzt sie ins Chaos. Es ist kein Anarchist mehr nötig, der Strippen für dieses Chaos ziehen musste, wie noch im Vorgänger-Film. Wir sehen zum Schluss nur noch Ausschreitungen und Plünderungen des wütenden Mobs mit Joker-Masken. Der Joker wird aus der Polizeihaft befreit und als Held auf den Händen getragen. Das ist eine nichtssagende Befreiung, die nicht in ein positives Projekt hineinmündet.
Das Subjekt des jüngeren Films, Joker 2, kann, wie bereits angedeutet, auf unsere Sympathie spekulieren. Denn er hat eine miserable Biographie, er besteht geradezu aus seiner Biographie voller Entbehrungen, der Biographie eines Außenseiters, der diese Lage nicht willentlich sucht, sondern darunter zu leiden hat. Er verkörpert das Opfer, diese prominente Figur unserer Zeit, die mitunter auch als „der neue Held“ unserer Gesellschaft (so etwa der Titel eines Buches von Lohr, 2019) bezeichnet wird. Auch dieser Joker kommt nicht ums Töten herum, schließlich muss ja die Karriere eines Gewalttätigen irgendwo beginnen. Joker 2 tötet in drei Situationen. Kein Mord ist mit einer Botschaft versehen. Er handelt aus Notwehr, ist nicht der Herr wie der Joker 1, der aus freien Stücken handelt, sondern der Knecht, der nur reagiert. Dieser Film könnte auch als eine populärsoziologische Entschuldigung der folgenden Taten des Jokers betrachtet werden.
Zunächst erschießt er drei verzogene Bürgersöhne (wir ahnen: Vertreter der Elite), die ihn in der Metro drangsalieren. Aus Notwehr zwar, aber er spürt das wohltuende Gefühl, die sind verwundbar. Dann erwürgt er seine Mutter im Krankenhausbett mit einem Kissen. Die Mutter erweist sich als Teil einer Lügenwelt; sie hält ihn wie ein Klotz vor seinem Sprung (wohin?) fest. Er verlässt die Mutter. Wird er aber auch mit einer frohen Botschaft als Verwandelter zurückkehren, wenn er seinen „Vater, Mutter und sein eigenes Leben hasst“ (Lukas 14:26)? Mit welcher frohen Botschaft geht der Joker 2 in die Welt, wird er auch das, was er aufgegeben hat, „um hundertfältig nehmen und das ewige Leben ererben“ (Matthäus 19:29)? Nichts dergleichen! Ein drittes Mal tötet er, hier verkündet er schließlich seine Botschaft, die ganz und gar nicht froh ist. Er erschießt sein Vorbild, den Meisterentertainer der glitzernden Fernsehwelt, der ‚Lügen Presse‘, hätte man auch gesagt. Allesamt handelt er als Betrogener, quasi immer aus Notwehr, Mord aus Leiden unter den anderen. Der Vatermord befestigt nicht mehr das Gesetz, wie Freud es noch dachte, sondern setzt es vollkommen außer Kraft. Für Joker 2 ist der Mord im Fernsehen, die Rache auf der Bühne der höchste Genuss, dessen er noch fähig ist. Der Film endet damit, dass der Mob mordet und brandschatzt. Genau darin drückt sich die affektive Aufladung unseres Zeitgeistes und ihre Entladung aus. Ob die Krawallen in Stuttgart und Frankfurt damit vorweggenommen wurden?
Der negative Glaube
Religionen waren nicht immer zurückhaltend bei der Deutung der Krisen, wie sie es derzeit sind. Aber selbst dann, wenn sie selbstbewusst die Naturkatastrophen oder Seuchen auf Gottes Strafe zurückführten, lieferten sie nicht einfach eine Folie, auf der dann bloß die negativen Gefühle abgebildet werden konnten. Die strafandrohende Deutung wurde nicht selten in positive Projekte zurückübersetzt, wie überhaupt religiöse Sanktionen auf die Regulierung der alltäglichen Lebensführung abstellen und damit Ordnungsfunktionen übernahmen. In solchen existenziellen Momenten griffen auch die achsenzeitlichen Religionen durchaus auf die kultische Praxis der Opfergaben zurück, aus denen kulturelle Produkte wie z.B. Kirchenbauten als Sühneleistung (dazu Niebaum in Pandemie – Kulturwissenschaftliche Ansichten) oder Festspiele wie Oberammergauer Passionsspiele hervorgegangen sind. Genau darin unterscheiden sie sich von den Verschwörungstheorien. So sind die Verschwörungstheoretiker gewissermaßen Unheilspropheten, die keine positiven Erlösungsvisionen mehr anbieten. Sie erweisen sich als die äußerste Form einer verselbständigten Kritik, die nicht mehr über sich hinausweist. Ken Jebsen wäre damit exemplarisch Priester einer negativen Religion, mit der wir in Zukunft mehr rechnen dürften.