Pandemien und Regelkonflikte
Von Historiker Matthias Sandberg
Die gegenwärtige Diskussion um Vorkehrungen und Regeln zur Bewältigung der durch das Corona-Virus verursachten Pandemie legt das desintegrative Potenzial von Regelkonflikten in aller Deutlichkeit offen: Dass individuelle Freiheits- und Persönlichkeitsrechte zugunsten zweckrationaler Ordnungsprozesse limitiert und dem kollektiven Wohl untergeordnet werden, wirft nicht allein brisante politische, sondern auch komplexe ethische Fragen auf. Zugleich offenbart das Ganze aber auch den unbedingten Handlungsimperativ: Gesellschaft muss auf die pandemischen Herausforderungen reagieren. Nicht minder laut als der Protest, der sich gegenüber den beschlossenen Maßnahmen formiert, ist die Kritik an der vermeintlichen Untätigkeit der Politik im verhältnismäßig ruhigen Corona-Sommerloch.
Wie Gesellschaften auf Katstrophen und Krisen reagieren, hängt auch von einem kulturell determinierten Repertoire grundlegender Ordnungsvorstellungen und Weltsicht ab; das gleiche gilt für die entsprechenden Vorkehrungen und Regeln. Auch die Alte Welt sowie die antike Medizin kannte und empfahl bestimmte Maßnahmen – wie etwa die Isolierung und Seklusion Erkrankter – als Reaktion auf epi- oder gar pandemische Seuchenverläufe. Die hippokratische Medizin, die krankmachende Dünste (μίασμα) als ursächlich für Seuchen bezeichnete, riet etwa dazu, Gegenden mit verseuchter Luft sowie Anstrengungen zu vermeiden, um eine Ansteckung über heftiges Atmen zu verhindern.
Für die Gesellschaften der Antike waren Regeldiskurse im Umgang mit Seuchen ebenso präsent, wie es für die Gegenwart gilt, doch der Schwerpunkt war ein anderer: Für die Bewältigungsstrategien der Gesellschaften der Antike spielte der Umgang mit Kontingenz eine ungleich wichtigere Rolle. Im Deutungshorizont antiker Gesellschaften markierten die Regelkonflikte im Zusammenhang mit Seuchen dabei jedoch weniger eine Konsequenz der pandemischen Ausnahmesituation, sondern vielmehr deren Ursprung: Katastrophale Ereignisse machten nicht nur die Kontingenz menschlicher Existenz offenkundig, sondern verlangten nach Einordnung in die jeweilige Weltsicht, nach Deutung und Erklärung von Elend und Leid.
Ein in der Alten Welt nahezu allgegenwärtiges Phänomen dieses Kausalitätsbedürfnisses war die Deutung der Seuche als göttliches Strafgericht für fehlerhaftes Verhalten der Menschen, als das Wirken dämonischer Kräfte oder aber als Resultat böser Magie. Devianz und Unreinheit war also die entscheidenden Deutungsmuster und genau darauf zielten die kollektiven Reaktionen: Zur Überwindung der Krise setzten sie auf kultische Reinigung und die Wiedergewinnung göttlichen Wohlwollens bzw. die Abwehr krankmachender dämonischer Einflüsse.
Aus der griechische-römischen Welt wie auch von den mit ihr interkulturell verflochtenen Gesellschaften des Alten Orients sind unzählige solcher Deutungsvorstellungen überliefert. Gleiches gilt auch für den kollektiven Umgang mit solchen Krisensituationen: Es waren vor allem gemeinschaftlich vollzogene Rituale der Reinigung (κάθαρσις), des Opfers und der Sühne, von denen man sich heilende oder schadensabwehrende Wirkung versprach. Überhaupt war die poenitentarische Interpretation von Seuchen eines der wirkmächtigsten Erklärungsmuster der gesamten, nicht erst der christlichen Antike.
Bereits die Ilias Homers berichtet von den Reaktionen der Troja belagernden Achaier, nachdem ihnen Apoll Pestpfeile in ihr Heerlager gesandt hatte: Als der Seher Kalchas den Griechen als die Ursache das frevelhafte Verhalten ihres Anführers, Agamemnon, benannt hatte, machten sich die Achaier daran, den Frevel zu sühnen, Apoll mit Hekatomben (dem Opfer von Rindern, Ziegen und/oder Schafen) zu besänftigen sowie sich an den Ufern des Meeres rituell zu reinigen:
„Drauf hieß Atreus Sohn [Agamemnon, M.S.] sich entsündigen alle Achaier:
Und sie entsündigten sich, und warfen ins Meer die Befleckung,
Opferten dann für Apollon vollkommene Sühnhekatomben
Mutiger Stier' und Ziegen am Strand des verödeten Meeres;
Und hoch wallte der Duft in wirbelndem Rauche gen Himmel.“
[Hom. Il. I, 312-317]
Am anderen Ende der Antike beobachten wir, dass sich aus christlicher Perspektive prinzipiell die gleichen Kausalitätsdeutungen und kollektiven Reaktionen ergeben haben: Im Zuge der Pestepidemie, die Rom im Jahr 590 n. Chr. heimsuchte – so berichtet der Bischof und Geschichtsschreiber Martin von Tours (538-594) in seinen Decem libri historiarum – habe der soeben zum Papst gewählte Gregor I. (* um 540, † 12. März 604, Papst von 590-604) das sündige Verhalten der Menschen erkannt, ermahnt und diese zum kollektiven Ritual der Bitt- bzw. Bußprozession angehalten:
„Und zwar brach [die Pest, M.S.[ in der Mitte des Januar [590, M.S.] aus und befiel zuerst [...] den Papst Pelagius, und er starb sofort, nachdem ihn die Krankheit ergriffen hatte. Als er tot war, verursachte diese Pest ein großes Sterben unter dem Volk. [...] Und als es soweit war, daß er [Gregor, der neue Papst, M.S.] geweiht werden sollte, wütete die Seuche noch in der Stadt; daher ermahnte er das Volk zur Buße mit folgenden Worten: ‚Die Strafen Gottes, ge¬liebteste Brüder, welche wir schon zu fürchten hatten, bevor sie über uns kamen, müssen uns umso mehr in Sorge versetzen, da sie gegenwärtig und wir sie an uns selbst erfahren. Das Tor zur Bekehrung soll uns der Schmerz öffnen, und die Strafe, welche wir leiden, soll die Härtigkeit unseres Herzens erweichen; wie es beim Propheten vorhergesagt ist: ,Das reichet bis an die Seele' Siehe, das ganze Volk wird von dem Schwerte des himmlischen Zorns getroffen und einer nach dem andern von einem plötz-lichen Tode dahingerafft; und es geht nicht ein langes Siechtum dem Tode vorher, sondern der Tod, wie ihr sehet, ereilt die Menschen vor dem Siechtum. Wir wollen uns daher, geliebteste Brüder, zerknirschten Herzens und gebessert in unseren Werken, im Geist zu Tränen bereit, bei der Morgenröte des vierten Wochen¬tags in der unten beschriebenen Ordnung versammeln, um einen siebenfachen Bittgang zu halten, auf daß der gestrenge Richter, wenn er sieht, daß wir uns selbst für unsere Sünden strafen, von dem Spruch der Verdammnis, der über uns verhängt ist, abstehe. [...] So wollen wir unter Gebet und Tränen von den einzelnen Kirchen ausziehen und uns in der Kirche der heiligen Maria, der unverletzten Jungfrau, der Mutter unsres Herrn Jesu Christi, zusam¬menfinden, auf daß wir dort anhaltend unter Tränen und Seufzen zum Herrn beten und Verzeihung für unsere Sünden erlangen mögen.‘“
[Greg. Tur. Hist. X, 1; Übers.: R. Buchner]
Die obige Darstellung von Giovanni di Paolo di Grazia setzt diese Schilderung bildlich um: Als die Prozession in Richtung des Mausoleums von Kaiser Hadrian – dem heutigen Castell Sant‘Angelo – zog, soll am Himmel über dem Monument der Erzengel Michael erschienen sein, der sein Schwert – ein symbolischer Ausdruck des göttlichen Zorns – wieder in die Scheide steckte; noch am gleichen Tag, so will es die Überlieferung, habe die Epidemie geendet. Bis auf den heutigen Tag erinnert daran die Statue auf der Spitze der Engelsburg.
Aus der Perspektive einer säkularisierten Gegenwart mag man geneigt sein, religiös-rituelle Kollektivhandlungen zur Eindämmung einer Seuche, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie und ihren Abstandsgeboten, zu belächeln. So sind immerhin im Frühjahr 2020 auch einige Bitt- und Bußprozessionen, welche die russisch-orthodoxe Kirche zur Überwindung der Corona-Pandemie hat vollziehen wollen, wegen der Ansteckungsgefahr untersagt worden. Doch haben wir zugleich auch erlebt, wie wichtig in Zeiten der pandemischen Ausnahmesituation kollektive Bewältigungsstrategien und das Gefühl von Handlungsfähigkeit sind: Das Horten von haltbaren Lebensmitteln, die überzogenen Käufe bestimmter Hygieneartikel, gar die unsinnige Empfehlung Desinfektionsmittel zu trinken; aus all dem spricht der unbedingte Wunsch, in Anbetracht der zahlreichen Unwägbarkeiten und der unsichtbaren Bedrohung Kontrolle über die zurzeit noch weitestgehend unkontrollierbare Situation zu erlangen.
Das Bedürfnis nach Bewältigung und Überwindung von pandemischen Krisensituationen lässt sich zu allen Zeiten beobachten; das gleiche gilt für ein ‚Kausalitätsbedürfnis‘ – die Einordnung der Ursachen der Krise in die eigene Weltsicht. An diesen Deutungsmustern orientieren sich naturgemäß auch die Antworten und Reaktionen auf die Seuche. Die Gesellschaften der Antike interpretierten Epi- oder gar Pandemien als göttliches Strafgericht, als Ausdruck menschlicher Verfehlungen gegen religiös fundierte Normvorstellungen. Um diesen Regelkonflikt beizulegen griffen sie auf kollektive Buß- und Reinigungsrituale zurück, von denen sie hofften, das sie die gute Ordnung zwischen göttlicher und menschlicher Welt restituieren und damit die Krise würden überwinden können.