Inszenierungen des Endes der Pest in der Frühen Neuzeit: Venedig 1631 und Wien 1714
Von Kunsthistoriker Prof. Dr. Jens Niebaum
Die Covid-19-Pandemie ist in Deutschland mehr oder weniger ausgeplätschert. Schrittweise wurden Maßnahmen zurückgefahren oder aufgehoben; am auffälligsten dürfte gewesen sein, dass die Maskenpflicht hier früher, dort später und wieder anderswo scheinbar gar nicht mehr endete. Die Aufhebung des Pandemiestatus durch die WHO am 5. Mai 2023 war eher ein bürokratischer Akt und wurde nur noch als Randnotiz wahrgenommen. Ein Freudenfest, dass die Jahre, die großes Leid für viele und mehr oder weniger einschneidende Entbehrungen für alle mit sich gebracht hatten, nun zu Ende waren, fand nicht statt. Vielleicht entsprach das unserer naturwissenschaftlich-medizinisch geprägten Sicht auf die Dinge: Denn man wußte und weiß ja, dass Covid nicht ‚weg‘ ist, sondern, wie man im medizin-bürokratischen Jargon schnell zu repetieren lernte, vom epidemischen in den endemischen Zustand übergegangen war. Zudem hatten die erheblichen Erfolge der Impfkampagne dem Virus schon vor dieser Transition viel von seinem Schrecken genommen. Bevor man so etwas wie das Ende der Seuche verkünden konnte, hatte sich das Leben zumindest im Westen weitgehend wieder normalisiert.
In der Frühen Neuzeit gingen Seuchen meistens anders zu Ende. Wo eine Epidemie in erster Linie als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen verstanden oder zumindest kommuniziert wurde, waren Vorher und Danach meist klarer konturiert. Während die Seuche grassierte, hatte man – neben der Beachtung eines mit der Zeit immer umfangreicheren und detaillierteren, von Ort zu Ort und Land zu Land variierenden Kataloges an medizinischen und hygienischen Maßnahmen – Gott um ihre Abwendung anzuflehen und, wenn dies eingetreten war, eben hierfür zu danken. Gottesdienste und solenne Feierlichkeiten signalisierten und inszenierten das Vorübersein des Leidens, das in der Wahrnehmung der allermeisten Zeitgenossen mit einer Besänftigung des göttlichen Zornes zu erklären war. Wo sich Herrscher, Gemeinwesen, Gruppen oder Individuen für den Fall der Verschonung von Pest und Tod Gott oder seinen Heiligen durch ein Gelübde verbunden hatten, markierte zudem dessen Erfüllung oder deren Vorbereitung sichtbar den Beginn einer neuen, in der Hoffnung der Überlebenden dauerhaft seuchenfreien Zeit.
„per publico beneficio, et à consolatione universale […] publicar libera dà contaggio la sudetta città”*
Am 21. November 1631 wurde Venedig „per gratia del Signor Dio et intercessione della B. Vergine Santa Maria della Salute“ für pestfrei erklärt und dieser Akt mit einem großen Jubelfest begangen. Vorausgegangen war eine der verheerendsten Pestepidemien in der Geschichte der Serenissima, der zwischen Juli 1630 und Oktober 1631 allein in der Stadt knapp 46.500 Einwohner zum Opfer gefallen waren. Die offizielle Beschreibung des Festes meldet, dass die Erklärung des Magistrato della Sanità, der venezianischen Gesundheitsbehörde, auf der glanzvoll mit temporären Festaufbauten, Teppichen und Gemälden dekorierten Piazza vor der ‚Staatskirche‘ San Marco stattfand. Unmittelbar im Anschluß erschollen Pauken und Trompeten, Geschütze wurden abgefeuert, und Glockengeläut erklang. Der Doge, die Signoria, der Senat sowie weitere Amts- und Würdenträger begaben sich in die Markuskirche und wohnten dem Hochamt bei, das vom primicerio Marcantonio Cornaro, dem Vorsteher des Kapitels der Basilika, zelebriert wurde. Auf dem Hochaltar war das Gnadenbild der Madonna Nikopeia, der siegbringenden Maria, die der Legende nach vom Evangelisten Lukas gemalt worden war, aufgestellt, die in die Rolle eines Palladiums der Republik hineingewachsen war. Musik von Claudio Monteverdi, dem Kapellmeister von San Marco, erklang . Anschließend setzte sich eine große Prozession mit den Mitgliedern der sechs großen Bruderschaften („Scuole Grandi“), den religiösen Orden, dem Dogen, den Senatoren und vielen anderen unter Mitführung der Nikopeia in Gang.
Ziel dieser Prozession, die – ähnlich wie das bei feierlichen Herrschereinzügen der Fall war – durch sechs ephemere Ehrenbögen und eine Pontonbrücke zog, war eine kleine Holzkirche bei der Dogana auf der Landzunge zwischen Canale della Giudecca und Canal Grande, die, in gerade einmal vier Tagen errichtet, mit Teppichen dekoriert und mit zahlreichen Lichtern beleuchtet war. Hier sollte in den folgenden Jahrzehnten die berühmte Votivkirche Santa Maria della Salute – Hl. Maria der Gesundheit – entstehen. Ihr Bau war am 22. Oktober 1630, auf dem Höhepunkt der Katastrophe, auf Beschluß des Senats der Republik vom Dogen feierlich gelobt worden, um Gottes Zorn zu besänftigen. Dabei berief man sich ausdrücklich auf die guten Erfahrungen mit Gelübde und Errichtung der Redentore-Kirche während der schweren Pest von 1576/77. Anders als in vielen anderen Fällen band man die Umsetzung dieses Gelübdes allerdings nicht an das zuvor eingetroffene Ende der Epidemie, sondern leitete sogleich die Umsetzung mit der Ernennung einer Gruppe von Sachwaltern, der Auswahl eines möglichen Ortes und der Auslobung einer Architektenkonkurrenz ein. Auch die Grundsteinlegung am 1. April 1631 erfolgte, während die Epidemie noch heftig wütete. Beweggrund für Gottes Gnade sollte nicht nur ein Versprechen, sondern zumindest der Beginn seiner Einlösung sein – mit anderen Worten: der Bau selbst, der, wie schon im Votum vom 22. Oktober festgehalten und dann unübersehbar umgesetzt, „Magnifica, et con pompa della devotione nostra“ sein sollte. Nach Entwürfen des noch jungen Architekten Baldassare Longhena errichtet und erst 1687 geweiht, handelt es sich um eine der prachtvollsten Kirchen, die je in Venedig errichtet wurden. Entsprechend dem Wortlaut des Gelübdes wurde festgeschrieben, die Prozession von der Staats- zur Votivkirche alljährlich zu wiederholen. Sowohl in dem prachtvollen Kirchenbau als auch in der jährlichen Wiederholung der Prozession wurde das Ende der Seuche, die Abwendung der Pest durch die Fürsprache der Muttergottes, zum festen Bestandteil des kollektiven und rituellen Gedächtnisses der Republik.
„Wien ohne W“
Auch als Wien, die Residenzstadt des Kaisers, 1713 von einer – letzten – Pestepidemie getroffen wurde, nahm der regierende Monarch Karl VI. Zuflucht zum Versprechen eines Kirchenbaus. Am 22. Oktober – die Seuche wütete seit einem halben Jahr – ließ er eine Prozession von der Hofpfarrkirche St. Augustin zum Stephansdom durchführen und gelobte dort feierlich für sich, sein Haus, seine Reiche und Provinzen („pro Me, Domo, Regnis, ac Provinciis meis“), eine Kirche unter dem Titel des hl. Karl Borromäus zu errichten und in ihr auf ewig jeden Tag Messen feiern sowie den Rosenkranz und die Lauretanische Litanei rezitieren zu lassen, um die Seuche von den Österreichischen Erbländern abzuwenden. Mit dem heiligen Mailänder Erzbischof hatte der Kaiser nicht nur seinen eigenen Namenspatron, sondern auch einen der prominentesten Pestheiligen zum Patron des neuen Gotteshauses bestimmt.
Mit dem Anbruch der kalten Jahreszeit ließen die Pestfälle tatsächlich mit zunehmender Deutlichkeit nach. Sichtbar wurde dies in einer schrittweisen Rückkehr zum ‚normalen‘ Leben: In der ersten Januarhälfte wurden die Schulen der Stadt wieder geöffnet; die Gerichte traten wieder zusammen, und die Niederösterreichische Regierung kam zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Zwischen Ende Dezember 1713 und Ende Februar 1714 konnten nacheinander die drei städtischen Lazarette geschlossen werden. Häuser und Wohnungen, die wegen aufgetretener Pestfälle versperrt und mit einem Kreuz gekennzeichnet worden waren, wurden freigegeben und gereinigt. Auch das Glücksspiel kam wieder in Schwung, das – wegen der dabei ausgestoßenen Flüche und der Gefahr des Ruins ganzer Familien – in besonderem Maße als Auslöser von Gottes Zorn galt und deshalb am 21. Februar vom Kaiser in aller Schärfe verboten wurde. Am 15. März 1714 schließlich verkündete ein kaiserliches Patent das Ende der Epidemie im ganzen Land.
Zwei Tage zuvor hatte man ein großes Dankfest „wegen gäntzlicher Befreyung dieser Kayserlichen Residentz von der ansteckenden Seuche“ (so der Chronist Matthias Fuhrmann) begangen. Erneut zog eine Prozession mit dem Kaiserpaar, dem städtischen Klerus, den Zünften, Landständen, kaiserlichen Kammerherren und Geheimen Räten u.a. unter Mitführung einer Karl-Borromäus-Reliquie nach St. Stephan. Der Jesuit und Hofprediger Franz Xaver Brean hielt eine Dankespredigt, deren Thema das Ende der Pest zur Zeit Davids nach 2. Sam. 24:25 war. Die Geschichte handelte davon, wie Gott, durch den Hochmut des Königs erzürnt, das Volk Israel mit einer Pest strafte, zu deren Beendigung er David den Bau eines Altars befahl – an dem Ort, an dem sein Sohn Salomon dereinst den Tempel bauen sollte. Bei allen Unterschieden, die Brean hervorhebt – Wien hatte erheblich weniger Opfer zu beklagen gehabt, und anders als David war der Kaiser natürlich gänzlich unschuldig an dem Verderben –, liegt doch die Parallele im Hinblick auf die gelobte Sühneleistung auf der Hand.
Anders als 1631 in Venedig war der Bau der gelobten Karlskirche freilich noch nicht begonnen, ja noch nicht einmal in die Wege geleitet worden – man wartete vielmehr ab, bis die Seuche wirklich erloschen war. Die folgenden Planungen zogen sich länger hin: Mindestens drei Architekten legten Entwürfe vor, von denen einer erhalten und auf den 15. April 1714 datiert; wenn, was wahrscheinlich ist, damit das Fertigstellungsdatum bezeichnet ist, hätte man die Einlösung des Gelübdes also sehr zügig in die Wege geleitet. Doch die endgültige Entscheidung Karls VI. für ein Projekt des kaiserlichen „Oberbau-Inspektors“ Johann Bernhard Fischer von Erlach wurde erst im Herbst 1715 getroffen, und auch der Standort der Kirche in der Nähe der kaiserlichen Sommerresidenz Favorita im heutigen vierten Wiener Gemeindebezirk stand offenbar erst Anfang September fest. Am 4. Februar 1716 – fast zwei Jahre nach dem ‚offiziellen‘ Ende der Pest – erfolgte die Grundsteinlegung der prächtigen Votivkirche, deren Bau sich noch bis 1737 hinzog.
Die Errichtung der Karlskirche hielt die Erinnerung an die Opfer der Pest und die Umstände ihres Erlöschens ebenso wach, wie sie mit den in ihr stattfindenden liturgischen Handlungen und Gebeten um Verschonung vor erneuten Ausbrüchen in die Zukunft wies. Eine ähnliche zeitliche Scharnierfunktion wuchs jener Medaille zu, die aus Anlaß des Endes der Epidemie geprägt wurde. Sie zeigt auf der einen Seite eine Ansicht der Stadt von Südosten mit dem Hochturm von St. Stephan leicht rechts der Mitte und der Legende (mit Chronogramm 1714): „Wien ohne W[eh]. / Sie ist iezt vnter dem Schvtz Gottes sicher.“ Auf der anderen Seite erscheint unter dem Tetragramm in der Glorie und umgeben zwei zusammengebundenen Lorbeerzweigen die Legende: „Gott ließ den Kaiser nicht, wie er nicht ließ die Seinen. Die Pest ließ nach in Wien, das Best wird bald erscheinen.“ Hier wird auf die Tatsache angespielt, dass der Kaiser bei Ausbruch der Seuche Wien nicht verlassen hatte, sondern in der Stadt geblieben war; typologisch wird dieser Beistand mit demjenigen Gottes parallelisiert, der das Ende der Pest zur Folge hatte. Das „Best“, auf das im letzten Vers angespielt wird, dürfte der Hoffnung auf die Geburt des ersehnten Thronfolgers Ausdruck verleihen. Aus der Überwindung der Pest, dem Ende der göttlichen Bestrafung, wird die Zuversicht geschöpft, dass Gott alsbald auch bei der Überwindung der dynastischen Krise des Erzhauses behilflich sein werde. Diese Hoffnung sollte sich indes als trügerisch erweisen.
* “zu öffentlichem Wohl und allgemeinem Trost […] bekanntmachen, daß die genannte Stadt von der Seuche befreit ist“ (Beschluß des Senates von Venedig, 13. November 1631)