An einem Ort fernab der Welt: Die Schutzmaßnahme der Quarantäne
Von Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Pia Claudia Doering (Romanistik)
Die Quarantäne zählt zu den wichtigsten Mitteln bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. In Form der räumlichen Isolierung über einen bestimmten Zeitraum berührt die präventive Maßnahme die Kategorien Raum und Zeit. Das Wort ‚Quarantäne‘ akzentuiert die zeitliche Dimension: Es gelangte aus dem Französischen ins Deutsche (daher die Aussprache des Anlauts als k) und geht über Zwischenstufen auf lat. quadraginta („vierzig“) zurück. In der mittelalterlichen Medizin galt die Frist von 40 Tagen als Grenze zwischen akuten und chronischen Krankheitsformen. Dieser spezifische Zeitraum kann einerseits aus den Schriften des griechischen Arztes Hippokrates hergeleitet werden, der nach 40 Tagen einen regelmäßigen Wendepunkt in Krankheitsverläufen konstatierte. Er kann andererseits religiösen Ursprungs sein, da die Zahl 40 im Christentum große Symbolkraft besitzt. Sie steht im Alten wie im Neuen Testament für einen Zeitraum der Buße und Besinnung als Voraussetzung für einen Neubeginn. Als nach der 40 Tage und 40 Nächte andauernden Sintflut die Berge langsam wieder aus dem Wasser emporstiegen, wartete Noah nochmals 40 Tage, bevor er das Fenster der Arche öffnete, um den Raben fliegen zu lassen. Die Stadt Ninive hatte nach der Predigt des Jona 40 Tage Zeit, um ihre Sünden zu bereuen. Noah blieb 40 Tage auf dem Berg Sinai, um Gottes Gesetz zu empfangen. Und auch Jesus verbrachte 40 Tage in der Wüste, bevor er aufbrach, um das Evangelium Gottes zu verkünden.
Die Quarantäne als Schutz vor der Ausbreitung von Epidemien ist eine Erfindung der florierenden mittelalterlichen Hafenstädte zur Zeit der Großen Pest. 1377 ordnete der Rat der venezianischen Handelskolonie Ragusa, des heutigen Dubrovnik, an, dass alle aus einem pestverseuchten Gebiet ankommenden Schiffe an einer vorgelagerten Felseninsel vor Anker gehen mussten. Die Seeleute und Händler mussten sich dort einen Monat in Quarantäne begeben, und den Einwohnern von Ragusa war es per Gesetz verboten, die isolierten Menschen aufzusuchen. Diejenigen, die gegen das Kontaktverbot verstießen, wurden ebenfalls für einen Monat auf die Insel verbannt. Betrug die Dauer der Quarantäne zunächst 30 Tage, wurde sie bald auf 40 Tage erhöht. So ist für den Hafen von Marseille im Jahr 1383 eine 40-tägige Isolationspflicht belegt.
Die in den Hafenstädten eingeführte Quarantäne hatte große ökonomische Vorteile: Anders als Hafensperren ermöglichte sie die Aufrechterhaltung von Handel und Güterumschlag. Die räumliche Isolierung von aus Seuchengebieten eintreffenden Reisenden und Waren wurde im Laufe der Zeit zunehmend effizient organisiert. Bis ins 17. Jahrhundert hinein entstanden auf vorgelagerten Inseln oder außerhalb der Stadtmauern Quarantänestationen. Besondere Bekanntheit erlangte neben den Lazaretten von Dubrovnik das in der Lagune von Venedig gelegene Lazzaretto Nuovo. Im Hauptgebäude, dem 100 Meter langen Tezon Grande, wurden Waren zwischengelagert und desinfiziert. Inschriften, Zeichnungen, Sigel und Symbole an den Wänden bezeugen die Anwesenheit von Kaufleuten aus dem gesamten Mittelmeerraum.
Die Ausnahmesituation der Quarantäne und deren Auswirkungen auf Individuen ebenso wie auf soziale Gemeinschaften ist Gegenstand literarischer Werke geworden. Eindringlich beschreibt José Saramago die Folgen der Isolierung von Menschen in einer leerstehenden psychiatrischen Anstalt in seinem Roman Die Stadt der Blinden aus dem Jahr 1995 (siehe dazu den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf). Der ebenfalls 1995 erschienene Roman Ein Ort fernab der Welt des französischen Literaturnobelpreisträgers J. M. G. Le Clézio, dessen Originaltitel La quarantaine lautet, handelt davon, wie Reisende, Europäer und indische Kulis, an ihrem Zielort Mauritius nicht an Land gehen dürfen, weil auf ihrem Schiff die Pocken ausgebrochen sind. Die Passagiere werden auf der nahegelegenen, von Indern bewohnten Ile Plate (engl. Flat Island, siehe Abb.) untergebracht, und schon bald brechen zwischen den unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen unerträgliche Spannungen auf. Die räumliche und zeitliche Abgeschlossenheit der Quarantäne erlaubt die literarische Analyse der gewaltsamen Mechanismen von Vergemeinschaftung und Ausschluss. Einzig der junge Léon, der denselben Namen trägt wie der auf einer späteren Zeitebene agierende Erzähler des Romans, erfährt die Insel und die Weite des Meeres als Befreiung. Er findet sein Glück in der Liebe zu der Mestizin Suryavati. Als die Quarantäne nach 42 Tagen beendet ist und die Reisenden endlich ein Schiff nach Mauritius besteigen dürfen, sind Léon und Suryavati spurlos verschwunden. Léon, der das Leben in der Inselkolonie Mauritius damit ebenso verweigerte wie eine Rückkehr nach Frankreich, trägt in der Familie von da an und über Generationen hinweg den Namen „Léon, le Disparu“.