„Religionen sind keine starren, monolithischen Größen“
Exzellenzcluster untersucht, wie Religionen einander von der Antike bis heute beeinflussten und welche Dynamiken das auslöste – Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“ ab 14. April
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 2. April 2015
Religionen haben sich von der Antike bis heute immer wieder gegenseitig beeinflusst und voneinander religiöse und kulturelle Traditionen übernommen. „Solche Transfer- und Rezeptionsprozesse zwischen Religionen sind in fast allen Kulturräumen und Epochen zu beobachten und lösten weitere Dynamiken aus“, sagen die Judaistin Prof. Dr. Regina Grundmann und der orthodoxe Theologe Prof. Dr. Assaad Elias Kattan vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster. „Zahlreiche Beispiele zeigen, dass Religionen wie Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus keineswegs starre, monolithische und verschlossene Größen sind.“ Die Wissenschaftler kündigten eine öffentliche Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“ des Exzellenzclusters und des Centrums für religionsbezogene Studien (CRS) der Uni Münster ab 14. April an.
Die Themen der öffentlichen Reihe reichen von multi-religiösen Identitäten in modernen pluralen Gesellschaften über den Transfer in der regulierten Religionsvielfalt Chinas bis zum christlich-muslimischen Dialog im Nahen Osten. Auf dem Programm stehen auch der Kulturaustausch zwischen Juden, Christen und Muslimen durch Buch und Bild im Mittelalter, Reliquientransfer zwischen dem östlichen und dem westlichen Christentum und das gemeinsame Erbe von Philosophie und Wissenschaft in Judentum, Christentum und Islam. Erörtert werden auch die christliche Kabbala, Wechselwirkungen zwischen dem Buddhismus und anderen indischen Religionen sowie die Rezeption hinduistischer Konzepte im Westen und umgekehrt. Vertreten sind die Fächer Religionswissenschaft, Byzantinistik, Indologie, Islamwissenschaft, Judaistik, Sinologie, Theologie und Philosophie. Am Exzellenzcluster werden Transfer-Phänomene seit 2012 im Forschungsfeld „Integration“ untersucht.
„Bis heute neigen viele Religionsvertreter dazu, den Transfer zu verneinen oder herunterzuspielen, da sie den Wahrheitsanspruch ihrer Religion gefährdet sehen. Doch für scharfe Augen war er nie unsichtbar“, so Prof. Kattan. „Die zahlreichen Fallstudien zum Transfer zeigen, wie schöpferisch und dynamisch Religionen sein können.“ So bestreiten nach Prof. Kattan heute viele muslimische Gelehrte nicht, dass sich der Islam Elemente aus dem Judentum und Christentum angeeignet habe: „Sie fließen nach Vorstellung der Gelehrten in die ‚größere Wahrheit‘ des Islams hinein, wo sie ‚korrigiert‘ und ‚gereinigt‘ werden.“ Der Wissenschaftler sieht auch in der heutigen Volksfrömmigkeit in Nahost einen „regen Transfer – wenn etwa Muslime in Ägypten christlich geprägte Feste wie das Frühlingsfest Shamm al Nasim feiern“.
Die Geschichte biete viele Beispiele für den Transfer religiöser und kultureller Traditionen, erläutern die Forscher. In der Spätantike etwa sei vielen christlichen Denkern bewusst gewesen, dass das Christentum auf heidnische Elemente zurückgriff. In der Entstehungszeit des Sufismus im 8./9. Jahrhundert wiederum seien erbauliche Erzählungen entstanden, die auf rabbinische Lehren zurückgingen, so Prof. Grundmann. In der Anfangszeit der islamischen Theologie im 9. Jahrhundert hätten Gelehrte im Vorderen Orient Konzepte und Begriffe christlicher Gelehrter entliehen, die ihrerseits von griechischen und jüdischen Vorstellungen beeinflusst gewesen seien, so Prof. Kattan.
Zudem fanden Erzählungen der Hebräischen Bibel in verschiedener Form Eingang in den Koran, darunter die Erzählung von der Bindung Isaaks. Gleichzeitig gilt im Islam Ibrahim (der biblische Abraham) als Erbauer der Kaaba, Begründer des Hadsch und Prophet, wie die Judaistin ausführt. Jüdische Mystiker wiederum übernahmen im Mittelalter Konzepte und Praktiken aus dem Sufismus und verwurzelten sie in der eigenen Tradition, indem sie einen jüdischen Ursprung dafür suchten. Abraham Maimonides (1186-1237), Sohn des bedeutenden Gelehrten Moses Maimonides, führte etwa die Askese der Sufis auf König David zurück.
Die Aneignung anderer Traditionen beeinflusste zum Teil die Sicht der Übernehmenden auf ihre eigene Religion, wie Prof. Grundmann am Beispiel der christlichen Kabbala erläutert: „Ende des 15. Jahrhunderts entwickelten christliche Gelehrte ein Interesse an der Kabbala, aus dem eine mehrere Jahrhunderte andauernde esoterische Strömung innerhalb des Christentums erwuchs. Christliche Kabbalisten versuchten einerseits, christliche Lehren, etwa die Trinität, mit kabbalistischen Konzepten zu erklären, andererseits wollten sie zeigen, dass die wahre Bedeutung der jüdischen Kabbala zum Christentum hinführe.“
Trotz Abgrenzungsmechanismen waren und sind Religionen nie undurchlässig für Einflüsse von außen, wie die Wissenschaftler unterstreichen. „Wenn Religionsvertreter den Austausch kritisch sahen und sehen, verbindet sich damit ein exklusives Verständnis von Identität, die sich definiert, indem sie sich von anderen Identitäten abgrenzt“, so Prof. Kattan. Doch der Umgang mit dem Transfer könne auch inklusiv verstanden werden, was einen Austausch begünstige. Eine Typologie des Transfers zu erstellen, halten die Forscher für schwierig, „denn er konnte sehr verschiedene Erscheinungen umfassen – von künstlerischen Ausdrucksformen über Kultpraktiken bis hin zu philosophischen und theologischen Ideen und Denkmustern. Auf welche Elemente jeweils zurückgegriffen wurde, war je nach Zeit und Ort unterschiedlich.“
Die Vorträge der öffentlichen Ringvorlesung sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 im Fürstenberghaus, Domplatz 20-22, in Münster zu hören. Veranstalter sind die Cluster-Projektgruppe „Transfer zwischen Weltreligionen: Aneignung – Transformation – Abgrenzung“ im Forschungsfeld „Integration“, deren Koordinatorin Prof. Grundmann ist, und das Centrum für religionsbezogene Studien (CRS). (vvm/ska)
Programm
Sommersemester 2015
dienstags 18.15 bis 19.45 Uhr
Hörsaal F2 im Fürstenberghaus
Domplatz 20-22
48143 Münster